berlin buch boom
: Im Taumel geballter Glückswilligkeit: „Berliner Weihnacht“ von Kaija Voss

Wer einmal den Versuch gemacht hat, der wird es erfahren haben: Weihnachten ist nicht zu entkommen. Die Rede ist dabei gar nicht von der Ankunft erster Lebkuchen im Oktober, nicht von der hastigen Besinnlichkeit unzähliger Adventsfeiern, nicht von den blauen Glühweintassen, die, von Touristen leer am Henkel umhergetragen, erinnern sollen: Weihnachtszeit in Berlin. Die Rede ist vom Heiligen Abend selbst.

Dabei ist die Gleichung ganz einfach: Berlin ist die Stadt der Zugezogenen, Weihnachten ist das Fest der Familie. Im Ergebnis ist Berlin am 24. Dezember ff. weitestgehend freundesfrei. Wer nun einmal den Versuch gemacht hat, Weihnachten zu entkommen – und das heißt: am Heiligen Abend allein zu sein –, als sei das ein Abend, den man eben selbst gewählt allein verbringen will, der wird erfahren: An diesem Abend legt sich eine Stille über Berlin, die Heilige-Abend-Stille des konzentrierten Festverlangens, die den selbst gewählt einsamen Abend unmöglich macht.

Besser also, ganz in Weihnachten einzutauchen, bis Weihnachten selbst nach einem greift: Mit „Berliner Weihnacht“ von Kaija Voss etwa. Hier zeichnet eine Weihnachtsfreudige in liebevollem Detail- und Bilderreichtum die Geschichte des Festes in Berlin nach, von den Anfängen bis in die Gegenwart der ungeteilten Stadt.

Im Mittelalter, so ist in „Berliner Weihnacht“ zu lesen, war die „geweihte Nacht“ ein öffentliches Ereignis. Mysterienspiele und Maskenumzüge mündeten in die Messe der Christnacht, wo die Unmengen von Talglichtern und Wachsstöcken den als einzigen nüchternen Prediger fast erstickten. Die Bescherung, zunächst „Kindleinbescheren“, führte Martin Luther ein. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts gehört der Weihnachtsmarkt in Berlin zum Fest, mit ihm der Honigkuchen; und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde der bunt geschmückte Tannenbaum zum „festlichen Symbol familiärer Zusammengehörigkeit“.

Das vormals öffentliche Fest war zum privaten geworden, zum Ereignis in der guten Stube im engsten Familienkreis. Öffentlicher wird es erst wieder, als die Zeiten schlechter werden, mit öffentlichen Speisungen in den 20ern oder dem Geschenkebasteln für die Kriegskinder. Nach dem Krieg gibt es Weihnachten Ost und Weihnachten West, und schließlich heißt es: „Ab 24. Dezember 1989 werden für West-Deutsche und West-Berliner deutlich erleichterte und vereinfachte Reisemodalitäten gelten.“

Und Weihnachten heute? Zwar mag man, so räumt die Autorin ein, auf dem Kurfürstendamm den Eindruck gewinnen, aus Luthers Kindeleinbescheren sei mittlerweile ein „kollektiver Kaufrausch“ geworden. Doch der Christnacht als X-mas gilt nur dieser eine Satz. Denn wie zauberhaft sind die weihnachtlichen Symbole illuminiert: Glocken, Sternschnuppen und „Rudolph, das rotnasige Rentier“. Berlin also leuchtet, und Orte weihnachtlicher Haus- oder Bläsermusik lassen sich allemal finden.

Der Weihnachtsunwillige mag das Buch niedersinken lassen und aus ihm heraustaumeln, erleichtert, so viel geballter Glückswilligkeit entronnen zu sein. Oder wird auch er eine Neigung fürs Fest entwickeln? Für die andern jedenfalls, die Weihnachtsfeudigen, ist das Buch ein kleines Stückchen Glückseligkeit. Doch Festverlangen hin oder her. Am Ende steht die Verführung durch den Klassiker, dem Rezept der Pfefferküchler aus dem 16. Jahrhundert:

„Lebkuchenrezept.

1 Pfd. Zucker

1/2 Seidlein Honig

4 Loth Zimet

1/2 Muskatrimpf

2 Loth Ingwer

1 Loth Cardamumlein

1/2 Quentlein Pfeffer

1 Diethäuflein Mehl

ergibt 5 Loth schwer.“

KATRIN KRUSE

Kaija Voss, „Berliner Weihnacht“, be.bra Verlag, Berlin, 16.90 €