wahrer als wittgenstein von JÜRGEN ROTH
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Seit geraumer Zeit und über alle kulturellen und sprachlichen Grenzen hinweg umtreibt die Philosophie die wesentliche, wahrscheinlich in ihrem Wesen begründete Frage, was die Wahrheit oder was wahr sei.

Wahr könne nur sein, was in den Dingen selbst als wahr sich zeige, lautete in etwa eine Antwort aus dem Kreis der Vorsokratiker, während einer ihrer prominentesten Nachfolger das Wahre dann etwas höher, am oder gleich im Ideenhimmel ansiedelte, was das Problem allerdings weder unmittelbar noch auf längere Sicht auch nur annähernd löste.

Mag es auch so sein, dass die gesamte Philosophiegeschichte, wie Bertrand Russell behauptete, nur eine Fußnote zu Platon ist, diese Fußnote hat mehrere alexandrinische Bibliotheken gefüllt, und zwar nur insofern, als es in ihr, der ein wenig muffelnden Fußnote, allein um die Wahrheitsfrage oder, so die Terminologie späterer angelsächsischer Unternehmungen, wahrheitstheoretische Fragen geht.

Einen Schlussstrich unter den vermaledeiten Fußnotensalat und verhauenen Argumentationsapparat vermeinte schließlich der frühe Wittgenstein zu ziehen, indem er, der Freund Russells, im „Tractatus logico-philosophicus“ die Wahrheits- und Wesensfrage für erledigt oder obsolet erklärte und stattdessen, den späteren Habermas und dessen Werk Faktizität und Geltung antizipierend, voll auf die Faktizität setzte. „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, hieß es nun, und diese allfällige Welt sei „die Gesamtheit der Tatsachen“.

Ob sich Wittgenstein selbst ganz genau verstand, ist nicht klar. Klar ist bloß, dass seine „Gedanken“ nicht derart „unantastbar und definitiv“ waren, wie er im Vorwort des „Tractatus“ herumposaunte. Denn ungeachtet der Wittgenstein’schen Dekrete rumorte die Wahrheitsfrage auch im Folgenden ungerührt weiter.

Nun aber erreichte uns aus dem mittelfränkischen Think-Tank-Zentrum Neuendettelsau eine am empirischen Detail erhellte Interpretation der Tatsächlichkeits- und Wahrheitsproblematik, die wenn nicht die Menschheit, so die Philosophie einen entscheidenden Schritt weiterbringen sollte – dergestalt nämlich kürzlich ein Mitglied des Gemeinderates dem Plenum unterbreitete: „Die Tatsache, dass ein vorhandener Kanal schon da ist, ist richtig.“

Der Satz besticht nicht nur durch Klarheit, sondern zudem durch eine geradezu wahrhaftige Unwiderlegbarkeit. Die Tatsache, dass etwas Vorhandenes schon da ist, ist richtig, sagt er, weil das schon erfahrene, das heißt, nur durch Erfahrung zu bestätigende Dasein irgendeiner Sache deren Tatsächlichkeit ratifiziert und sich zugleich als wahrer Doppelbeweis der Existenz seiner selbst erweist.

So weit also alles klar. Noch einen Tick richtiger und wahrer wäre der Satz allerdings so gewesen: „Die Tatsache, dass ein vorhandener Kanal schon da ist, ist faktisch.“ Im Sinne nämlich der aktuellen weihnachtlichen Zeit des schonungslosen Fernsehschauens, jener tatsächlichen Fernsehkanalherrlichkeit, die im Rahmen des christlichen Urfestes einfach „nicht mehr wegzudenken“ (Heribert Faßbender) ist und von der man schon seit geraumer Zeit den Kanal faktisch komplett voll hat.