Auch frustrierte Figuren haben Worte, die gezielt vernichten

„Eldorado“: An der Berliner Schaubühne machen Marius von Mayenburg und Thomas Ostermeier aus der Katastrophe der Arbeitslosigkeit einen ästhetischen Modellversuch

Die Geschichte ist alt und brandaktuell. Das behauptet das Theater zwar häufig von seinen Stücken, aber meist braucht man doch Abstraktionsvermögen, um ihr Geschehen ins Heute zu übersetzen. Bei dieser Geschichte ist das nicht nötig. Ein Blick in die Zeitung, die Statistik, im schlimmsten Fall ins eigene Leben genügt, um zu zeigen, dass gewisse Ereignisse und Kompensationsstrategien sich spätestens seit der Erfindung des Angestellten in regelmäßigen Abständen exakt wiederholen. Ein Mann verliert seinen Job. Der Zeitpunkt könnte schlechter nicht sein, denn gerade hat er ein Haus gekauft. Voller Scham will er sich seiner Frau mitteilen, da verkündet sie freudig, dass sie ein Kind erwarten. Der Mann schweigt, verzweifelt und beginnt, mit der Lüge zu leben. Verlässt morgens das Haus, als ob nichts wäre, kommt abends heim und erfindet eine Karriere. Das funktioniert so lange, wie das Geld reicht – dann zerplatzt die Blase, die Frau ist erschüttert, der Mann am Ende. Er bringt sich um. Originell ist das nicht, aber darum kümmert sich das Leben selten.

„Eldorado“ heißt das jüngste Stück von Marius von Mayenburg, doch Hoffnung auf eine goldene Zukunft macht sich keiner der Protagonisten ernsthaft. Was unter anderem daran liegt, dass sie all ihre Energie darauf verwenden, sich die Gegenwart zur Hölle zu machen. Anton betrügt im Immobiliengeschäft und unterschreibt seine eigene Kündigung. Seine Frau Thekla ist so grob und unsensibel, dass das Ende ihrer Karriere als Konzertpianistin nur natürlich erscheint. Ihre Mutter dagegen ist Königin der Erniedrigung; sowohl ihren 30 Jahre jüngeren Freund als auch Thekla degradiert sie zu Nullen, Nichtsen, Leerstellen. Gegenseitig reißen sie sich die Haut vom Leib. Von Mayenburg beherrscht die Sprache der Zerstörung, das hat er schon mit seinem ersten Erfolgsstück „Feuergesicht“ bewiesen: Egal ob die Figuren frustriert, überheblich, verwirrt oder handgreiflich sind, immer haben sie Worte, die gezielt vernichten.

Doch diesmal scheint der Dramatiker, seit 1999 Hausautor und Dramaturg an der Berliner Schaubühne, seiner Sprache und dem Drama ihrer Sprecher nicht recht zu trauen. Während das Programmheft 100 Jahre Arbeitslosigkeit in Deutschland mit Zahlen belegt, als würde den Figuren qua Masse Tragweite verliehen, wird auf der Bühne die private Tragödie von Thekla und Anton vor einen veritablen Weltuntergang platziert. Kampfgeschwader kreisen über der Stadt, von Angriffswellen, Ruinen und Flüchtlingen ist die Rede, Menschen explodieren und Krähen ziehen fort. Um was für einen Krieg es sich handelt, wird nicht klar; er ist lediglich präsent als dunkles Bedrohungsszenario. Anfangs funktioniert das auch, aber je länger das Ehedrama in bekannten Bahnen fortschreitet – Frau merkt, dass Mann nicht im Büro ist, vermutet Affäre, kriegt Eifersuchtsanfall etc. – desto mehr wirken die Katastropheneinblendungen isoliert wie „Tag X“ nach ZDF-Melodram.

Für die Uraufführung hat Jan Pappelbaum einen herbstlichen Wald gestylt. Sechs kahle Baumstämme ragen in den Himmel, der Boden ist mit Laub bedeckt, ein Flügel und ein Ledersessel sind die einzigen häuslichen Requisiten. Im Hintergrund strahlt ein weißer Prospekt im Halbrund, aus dessen Leuchten heraus die Schauspieler treten. „In Schönheit sterben“ lautet die Devise, die auch Thomas Ostermeiers Regie ausgibt: Vom schmutzigen Bürgerkrieg ist nur zu hören, stattdessen sehen wir auf der Bühne Menschen rote und gelbe Mäntel wechseln. Mit Stephanie Eidt, Judith Engel und einer bezaubernd garstigen Ingrid Andree ist die Katastrophe der Arbeitslosigkeit ein ästhetischer Modellversuch. Männer kommen darin nur als Hampelmänner vor. Selbst Anton wird von Matthias Matschke als traurige Lachnummer gegeben. Wenn er beginnt, die Stimme seines toten Chefs zu hören, ist das nicht erschreckend, sondern Slapstick.

Es ist die Stimme dieses Toten, die am Ende einen neuen Anfang verheißt: Die Stadt, ja die Erde muss aufgegeben werden, doch auf dem Mars gibt es eine neue Chance. Die Menschen werden dort eine Haut aus Gold entwickeln. Eldorado im Weltall. Wie das geschehen soll, bleibt vollkommen unklar. Doch in Oberflächenvergoldung hat man an der Schaubühne schließlich Expertise. CHRISTIANE KÜHL