berliner szenen Die DB weiß Bescheid

Abfalleimeretikette/n

„An ihrem Müll sollt ihr sie erkennen“, predigte uns ein Archäologieprofessor. Was waren das für Sternstunden, wenn wir gemeinsam mittelalterliche Abortgruben sondierten und er daraus die soziale Schichtung der Gesellschaft rekonstruierte. Doch aktueller Abfall ist keine schöne Angelegenheit, und es kommt nicht gut an, wenn man vor Ort einige Mülleimer entleert und zu einer genaueren Analyse schreitet.

Nur gut, dass die Deutsche Bahn ein Herz für unsereins besitzt und den potenziellen Inhalt bereits als Foto außen auf die Abfalleimer klebt. Idealer Durchschnittsmüll von idealen Durchschnittskunden. Und so stehe ich ein ums andere Mal am Zoo und versuche zu ergründen, welche Kunden sich die Bahn so vorstellt. Mülltrennen können müssen sie jedenfalls. All die seriösen Zeitungen und -schriften gehören ins Altpapier, ja klar; interessanter ist der Behälter fürs Glas: Flaschen in grün und ohne weitere Beschriftung – natürlich, wer Comfortpunkte sammelt, klebt auch Flaschenetiketten in Sammelalben. Wirklich spannend wird es bei Restmüll und Verpackungen, Tragödien deuten sich an: Ein blond gelockter Jüngling erwartet seinen Liebsten, kämmt sich dabei und hört auf dem Walkman das gemeinsame Lied. Doch die Verspätung macht alles zunichte, es bleiben eine blonde Locke, ein Strauß Margeriten, zwei verschlissene Kämme, eine Kassette, zu der Bandsalat gehört, und ein Kümmerling zurück. Bahnhofsblues. Beim Blick auf den Verpackungsmüll sieht man ein Durchschnittsabteil geradezu vor sich: Alle trinken ohne Unterlass Sunkist, Südmilch und Blutorangensaft im Tetrapack, leeren Chipstüten, löffeln Fisch aus Dosen und reinigen ihre Kontaktlinsen. „Willkommen an Bord des ICE!“

CARSTEN WÜRMANN