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„Name. Hier. Sohn da unterschreiben“

Im Ausländeramt an der Nöldnerstraße hängen Netze, damit sich niemand hinunterstürzt. Besucher werden hinter Schloss und Riegel abgefertigt. Dolmetscher fehlen. Der Flüchtlingsrat verlangt Verbesserungen. Die soll es geben, aber nur dort, wo genehme EU-Ausländer Anträge stellen müssen

„Sind Sie verheiratet?“, fragt es aus dem Schalter. „Dann zeigen Sie mal“

VON JOHANNES GERNERT

Die Netze verzerren das Bild. Sonst sieht alles wie in einer gewöhnlichen Behörde aus. Die beigen Wände mögen ein bisschen dreckiger sein. Länger schon nicht mehr gestrichen. Aus manchen gepolsterten Türen mit zerrissenem Lederüberzug quillt auch der Schaumstoff. Aber die Tafeln, an denen wechselnde Wartenummern unbeweglichen Raumnummern gegenüberstehen, die Wartezimmer, die Wegweiser, die langen Gänge, die braunen Plastikstühle. Und die Aktenträger, die still durch die Flure gleiten, so wenig auffällig wie Schornsteinfeger im Kohlekeller. Alles Lebenszeichen einer normalen Verwaltung. Wenn nur die Netze nicht wären.

Sie sind im Treppenhaus aufgespannt, im ersten Stock und im zweiten. Sie sind mit sechs Stahlschrauben an der Wand befestigt. Sie sehen aus als könne man mit ihnen im Meer Fische fangen, sie in Fußballtore hängen. Grüne Netze aus starken Seilen. Wenn einer aus dem dritten Stock auf diese Netze hinuntersieht, weiß er, dass er erst gar nicht springen braucht.

„Es hatten schon Leute die Absicht, sich da herunterfallen zu lassen“, sagt Claudia Langeheine, die stellvertretende Leiterin der Ausländerbehörde. Das ist das eine Extrem. In der alten Dienststelle in Hohenschönhausen fanden auch Übergriffe auf Mitarbeiter statt, die „massive Verunsicherung nach sich zogen“. Deshalb habe man in der Nöldner Straße in Lichtenberg, wo Duldungen und Aufenthaltsgenehmigungen heute ausgestellt werden – oder abgelehnt – eine andere „Bediensituation“ eingeführt.

Die Angestellten arbeiten hinter Schloss und Riegel. Hinter Stahltür und Glasscheibe. Im zweiten Stock etwa. Da klebt am Eingang zu einem Dienstzimmer ein Schild, das sehr unmissverständlich den Zutritt verwehrt. Das Schild ist rot umrandet. Es sieht aus wie all die anderen Schilder in den Gängen, die auf das absolute Rauchverbot hinweisen. Ein Mensch ist darauf zu sehen, der dem Betrachter seine Handinnenfläche abwehrend entgegenstreckt. Eine große schwarze Hand. Wenn Flüchtlinge und Asylbewerber auch sonst wenig verstehen mögen, von dem, was die Sachbearbeiter hinter den Stahltüren ihnen mitteilen. Die Handabwehr sitzt.

„Natürlich ist die Politik darauf ausgerichtet, die Leute loszuwerden“, sagt die Sozialarbeiterin im Warteraum 230. Sie meint die große Politik. Aber auch in der Nöldner Straße 34–36 wird effektiv der Eindruck vermieden, man solle sich hier wohl fühlen. Die Sozialarbeiterin begleitet eine Frau aus dem ehemaligen Jugoslawien. „Eigentlich“, sagt sie, „müsste man die Menschen schon an der Pforte in ihrer Landessprache begrüßen.“ Sie weiß, dass das utopisch ist. Man begrüßt sie gar nicht. Und man spricht deutsch, die Amtssprache. Oder Bundeswehrdeutsch für Ausländer: „Name. Hier. Sohn da unterschreiben.“ Dolmetscher gibt es keine. „Erklären Sie dann mal, was die Aussetzung einer Abschiebung ist“, sagt die Sozialarbeiterin.

Irgendwann verschwindet sie mit ihrer Klientin in einer Kabine, die den Schalter 11 oder 12 abschirmt. Die kleinen abgegrenzten Räume könnten auch im Schwimmbad stehen, zum Umziehen. Es ist nicht gerade viel Platz im Innern. Wenn eine Abschiebung ansteht, eine Duldung abgelaufen ist, lassen sich die Türen verriegeln.

Die Kabäuschen schaffen nicht mehr als die Illusion von Privatsphäre. Die Dialoge dringen kaum gefiltert nach draußen. „Warum drohen Sie mir?“, fragt ein Schwarzer, der bei einer Firma am Alexanderplatz arbeitet, kein Geld dabei hat, schon eine Weile in Deutschland lebt und gerade seine „größte Lohnabrechnung“ vorzeigt. „Ich drohe nicht“, antwortet der Schalterbeamte ruhig und nicht unfreundlich. Datenschutz ist etwas anderes.

Von draußen allerdings hört gar keiner zu, weil alle sehr intensiv mit Warten beschäftigt sind. Sie wedeln mit frisch geschossenen Passbildern, rollen die Zettel mit ihren Wartenummern, falten sie, starren darauf, als müssten sie die Zahlen auswendig lernen. Vergleichen mit den Nummern auf der Anzeige. Schlafen mit dem Kopf an der beschlagenen Fensterscheibe. Von der Decke hängen zerfetzte Vorhangreste. Selbst wenn man ohne einen Funken Deutsch den grau verputzten Bau in Lichtenberg betritt, das Wort „Warteraum“ kennt nach dem ersten Besuch jeder. Silbrig gerahmt hängt es über einem guten Dutzend Türen. Wie eine Botschaft. Wie etwas Religiöses. Dargeboten wie ein Geschenk.

Eine Frau in einer langen weißen Weste läuft wie ein Schlossgespenst über die Flure, als wäre sie hier zu Hause. Als ihre Nummer dran ist sagt die Schalterbeamtin: „So meine Dame, nur noch ein Monat.“ Eine Begrüßung wie ein Pferdekuss. „Ich dulde Sie nur noch einen Monat“, wiederholt sie. Dann sagt sie: „Wenn Sie nicht ausreisen, dann schiebe ich Sie irgendwann ab. Einen Monat, ja, bis zum fünfzehnten.“ Womöglich ist das einfach eine sehr bizarre Form von Humor, die in dem Klima hinter den übergriffssicheren Stahltüren gedeiht. Vielleicht ist es wirklich nur ein Scherz. Am falschen Platz. Zur falschen Zeit.

Christine Schmitz sagt, dass „Leute mit dem Herzen am rechten Fleck da nicht arbeiten können“. Schmitz begleitet Flüchtlinge in die Ausländerbehörde. „Viele denken, die Antragsteller sind abhängig von ihrer Gnade“, stellt sie fest. In der vergangenen Woche hat sie mit der Leitung über die Zustände in der Ausländerbehörde gesprochen. Der Flüchtlingsrat Berlin hatte das Abfertigen an Schaltern, die langen Wartezeiten und das Fehlen von Dolmetschern kritisiert. Schmitz merkte, dass die Leute von der Behörde „offen waren für Diskussion“. Jens-Uwe Thomas vom Flüchtlingsrat hat das ähnlich wahrgenommen. Vor allem die Situation am Friedrich-Krause-Ufer, dem Hauptsitz der Behörde, wolle die Senatsverwaltung für Inneres nun verbessern.

In der Nöldnerstraße dagegen seien wohl keine Veränderungen geplant. „Es entsteht schon der Eindruck, dass nur dort etwas gemacht wird, wo auch EU-Ausländer hingehen“, findet Thomas. Nach Lichtenberg kommen Asylbewerber und Flüchtlinge von anderswoher. Auch „Ausreisepflichtige“, wie die stellvertretende Behördenleiterin Langeheine sagt. Sie hat sich die Vorwürfe des Flüchtlingsrats angehört und will sie prüfen. Im Januar soll es wieder ein Gespräch geben.

„Natürlich ist die Politik darauf ausgerichtet, die Leute loszuwerden“

Am Friedrich-Krause-Ufer wird seit zwei Jahren eine neue Form der „Terminierung“ getestet. Mit festen Zeiten statt Wartenummern. Ein sehr verlässliches System, findet Karsten Leibold. Er ist Anwalt und vertritt Flüchtlinge. Für die Nöldner Straße hat er sich eine eigene Strategie ausgedacht. Die Klienten kommen um halb acht, wenn die Behörde aufmacht, und ziehen eine Wartenummer. Er kommt eine Stunde später. Wenn er Glück hat, geht es schnell. „Heute ist es gut gelaufen“, sagt Leibold. Um zwanzig nach zehn hat er von drei „Fällen“ zwei geschafft. Manchmal wartet er vier Stunden. Aber wie das so sei in einer Haushaltsnotlage: „Am meisten wird dort gespart, wo man es sich leisten kann.“ In der Nöldner Straße herrscht beim Sparen kein falscher Geiz.

Nicht alle warten so lange. Ein hagerer Mann kommt als Betreuer, erledigt Behördendinge für einen Flüchtling. Er steht vor der Tür mit der abweisenden Hand. Eine halbe Stunde. Dann ist für ihn alles fertig. Wenn er zwei Stunden warten müsste, sagt er, würde jeder Steuerzahler für diese zwei Stunden Wartezeit zahlen. Er tue hier seinen Job. Dann denkt er einen Augenblick nach, über das, was er da gerade gesagt hat. „Allgemein ist eine schnellere Abfertigung wichtig“, fügt er hinzu.

Nach der eigenen drückt er sich an der Menschenmenge im Treppenhaus vorbei. Die Leute stehen lethargisch. Gelegentlich geht einer zum Rauchen an die frische Luft. Man kann die Nummern eigentlich nicht aus den Augen lassen, weil sie nach einem undurchschaubaren System wechseln. Nie nach der Reihe. Aber viele sind zu mehreren da, als Familie, wiegen Babys im Arm. Die Kinder müssen sie mitbringen. Zum Beweis. Auch die Frauen. „Sind sie verheiratet?“, fragt es aus dem Schalter. „Dann zeigen sie mal.“ Es klingt wie „Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte.“ Der Mann zerrt seine Frau in die Kabine.

Ein Stockwerk höher ist es ruhig. Auf einem Pfeil in Neon-Orange steht „Vietnam“. Darunter: „Abschiebung.“ Das Wartezimmer ist leer. Nach Vietnam möchte heute niemand abgeschoben werden.

Ein Polizeiplakat bittet um die Aufklärung eines Mords. Der Getränkehändler Gerhard Kreiner wurde in 65439 Flörsheim-Weilbach umgebracht. Sein Foto ist mit Hörnern verziert. Jemand hat „Satanas“ auf seine Stirn geschrieben. „Wenn Gott gibt nur ein Wunsch, ich wünsche keine Abschiebung“, steht in Kritzelschrift ganz unten. Am anderen Ende des Gangs steht eine Stahltür offen. Die beiden Zellen im Innern sind leer.

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