Vier Gründe für Deutschland

„Ich will hier rein“ ist Gerhard Schröders bekanntester Satz. Die neueste Variante: WIR wollen da rein – in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Henning Kober hat sich dort schon einmal umgeschaut, für alle Fälle. Um hinein-zukommen, braucht man eigentlich eine Einladung

AUS NEW YORK HENNING KOBER

Der Weg zu den Vereinten Nationen ist ein Hindernislauf. Vergangener Freitag, später Vormittag. Auf der Treppe von der Subway hoch zur 51. Straße schreit eine gestürzte Dame. Oben krümmt sich ein Mädchen in eine Decke gehüllt und jammert nach „Change“. Ein junger Mann im Kapuzenpullover stößt sich fluchend mit den Schultern durch die unentschlossene Masse aus Menschen. Chaostag. New York dampft feucht. Der graue Himmel sprüht Gewächshausregen. Schirme sind scharfe Waffen. Passanten springen über die große Pfütze am Straßenrand. Ab der dritten Avenue überraschend ein Reiseleiter: Schwarz-rot-gold flattert einen Fahne hoch im Wind, das Deutsche Haus. Dort geschlossene Türen, aber durchs Fensterglas Blick ins Fernsehen, die „Tagesschau“. Bundeskanzler Schröder erklärt in Tokio: Unser Land will in den Sicherheitsrat, mit Vetorecht. Bisher ist das den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs, den USA, Russland, Großbritannien und Frankreich sowie China vorbehalten. Jetzt will Deutschland „Verantwortung übernehmen“. Gerhard Schröder tanzt seinen Kopf um das Mikrofon. Er lacht wie ein Bub.

Sicherheitskontrolle im Bierzelt

Nebenan verschwindet die Spitze des schwarz verglasten Trump World Tower im Nebel. „The Most International Adress“, lässt Donald Trump, der Mann mit den gelben Haaren, werben. 191 von 193 Ländern der Erde sind Mitglieder der Vereinten Nationen. An der Ecke steht eine Tibet-Demonstration im Regen. Auf der anderen Straßenseite trennt ein Zaun New York vom exterritorialen Gebiet des UN-Hauptsitzes. Niemand rüttelt daran. Ein Asiat im Anzug besteht auf einem Porträt vor dem Hauptgebäude, grünes Glas über 39 Etagen. Der Besuchereingang ist links. In einem Bierzelt die Sicherheitskontrolle, davor eine lange Schlange. Schulklassen aus Spanien und England, Rollstuhlrentner, Damen, Herren, Gammler, jung und alt, sie tragen alle Farben. Das passt gut, wir stehen am Eingang zur Regierung der Welt. So ja zumindest der noble Gedanke.

1945 als Nachfolger für den machtlosen Völkerbund gegründet, mit dem in ihrer Charta niedergeschriebenen Vorsatz, „künftige Geschlechter vor der Geisel des Krieges zu bewahren“, ist die UNO eine großartige Idee der Moderne. Vor 31 Jahren, im September 1973, traten BRD und DDR bei, vorher war das nicht erwünscht, unser Land galt als „Feindstaat“. Seitdem galoppiert die Geschichte, Wiedervereinigung, Souveränität, Bundeswehreinsätze auf dem Balkan, in Afghanistan. Sichtbarer auch: Unser Land wird mehr Deutschland. Die Nationalstolzdebatte vor ein paar Jahren war kein Strohfeuer, sondern Fackel für einen aus unterschiedlichen Interessen befeuerten Trend. Meine Generation, die nach 1980 Geborenen, nervte in der Schule mehrheitlich die ständige Wiederkehr von Dritte-Reich-Themen. „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ in Deutsch. „Hitlerjunge Salomon“ in Religion. „Im Westen nichts Neues“ in Geschichte. Bald waren wir, die wir alles über den Wahnsinn aus unserem Land wissen wollten, mit unseren SPD-Lehrern in der Minderheit. Die Haltung der anderen, der meisten: „Warum müssen w-i-r uns eigentlich ständig entschuldigen?“ In ihren Argumenten: lästige Legenden von Eltern und Großeltern, gekreuzt mit der neuen Unschuld des ehrlichen Desinteresses, und der Wunsch nach Normalität – ein tückisches Beet, auf dessen Blumen es die Thinktanks der Parteien jetzt offenbar abgesehen haben. Die CDU rubbelt am Wort „Patriotismus“. Joschka Fischer nennt vier gute Gründe, warum unser Land jetzt Anspruch hat auf einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat.

Lang heißt das: W-i-r sind eine der größten Industrienationen der Welt. W-i-r leisten den drittgrößten Finanzbeitrag an die UN. W-i-r stellen die zweitmeisten Truppen für UN-Missionen. W-i-r sind volkswirtschaftlich und bevölkerungsmäßig das größte Land der Europäischen Union. Oder kurz: Größe. Geld. Bundeswehr. Größe. Kanzler Schröder sagt, wir erheben diesen Anspruch „sehr selbstbewusst, aber ohne jegliche Drängelei“.

UNO go home

Hinter mir in der Schlange, es regnet noch immer, steht Andreas mit seiner Mutter. „Aus dem Frankfurter Raum.“ Er hat den rosa Kragen seines Hemdes hochgestellt, trägt Hornbrille, sie eine Jil-Sander-Tasche. Die Mutter sagt: „Können wir mit deinem Schreiben nicht durchgehen?“ Er geht zu dem dunkelhäutigen Sicherheitsbeamten. Sie können durchgehen. Ich warte weiter im nassen Wind. Früher war das hier blutiger Boden. Schlachthofviertel. John D. Rockefeller jr. schenkte es der jungen Weltorganisation 1949. Die USA ermöglichte mit einem unverzinsten Kredit über 67 Millionen Dollar die von einem internationalen Architektenteam um Oskar Niemeyer und Le Corbusier entworfenen und 1952 vollendeten vier Bauten. Heute sind die USA der größte Schuldner der UNO. Im November sendet eine den Republikanern nahe stehende Organisation Fernsehspots, die mit der Forderung „UNO go home“ enden. Ihr Vorwurf: Die Vereinten Nationen seien „ein sicherer Hafen für terroristische Organisationen und ihre Handlanger“.

Diesen Menschen dürfte der Puls rasen, sähen sie wie ich jetzt das Bild von Jassir Arafat in der Eingangshalle. Es erinnert auf einem schwarzen Tisch vor einem Fenster zum East River. Im Untergeschoss ein „Gift Center“. Die Bibel, Meditationskassetten und Krawatten kann man da kaufen. Zum Beispiel mit „I am a Republican“-Druck, 16,75 Dollar. In Glasvitrinen Typisches aus den Mitgliedsländern. Bei Germany steht romantische Unschuld: Hummel-Figuren. Die New York Times druckt einen großen Artikel über den „Öl für Lebensmittel“-Skandal. Kojo Annan, der Sohn des Generalsekretärs, steht unter Korruptionsverdacht. Die Bush-Regierung ließ sich genüsslich lange Zeit, dem Ghanaer das Vertrauen auszusprechen. Im US-Wahlkampf hatte dieser darauf hingewiesen, dass der Irakkrieg „illegal“ sei. Klar ist: Die USA unter Bush wollen die Vereinten Nationen als gut funktionierende Hilfsorganisation, nicht als Weltregierung. „Das Gewissen der Welt“, nennt Kofi Annan die UNO matt. Er hat eine Reformkommission eingesetzt; die entscheidenden Vorschläge folgen diplomatischem Memory. Das Spiel dreht sich um den mächtigsten Mann der Welt, und der sitzt im Weißen Haus. Erstens: Bei unmittelbarer Gefahr sollen Staaten auch ohne Zustimmung des Weltsicherheitsrates bomben dürfen (das entspricht der Weltsicht von Bush). Zweitens: Der Sicherheitsrat soll erweitert werden, und zwar auf bis zu 24 Mitglieder.

„Darf ich die Herrschaften für die Führung auf Deutsch bitten, nach vorne zu treten“, sagt die Stimme aus dem Lautsprecher. Ich stehe zwischen einer Hochzeitsgesellschaft „aus der Nähe von Hamburg“, wie Martje Rosebrock mir erklärt. Wir folgen Björn Sonden, einem Schweden, der in Wien Deutsch gelernt hat. Lässig-routiniert weist er auf die japanische Friedensglocke, die Henry-Moore-Skulptur. Die Türen am Eingang sind ein Geschenk von Kanada. Das deutsche Präsent ist leider nicht vorzeigbar, ein Pausenraum für die Mitglieder des Weltsicherheitsrates. „Sieht aus wie eine Bierstube“, so Sonden. Was meint Martje, die 22 ist, Jeans mit Schlag und einen schmal geschnittenen Mantel trägt, gehört unser Land in den Sicherheitsrat? „Frag besser meine Schwester, die studiert etwas in der Richtung.“ Und deine Meinung? „Als wir das in der Schule durchgenommen haben, war ich überrascht, zu hören, dass wir da noch nicht drin sind.“ Tatsächlich ist Deutschland doch drin, noch bis Ende des Jahres. Als nicht ständiges Mitglied hatte unser Botschafter Gunter Pleuger im Februar 2003 auf dem Höhepunkt des Irakstreits sogar den Vorsitz. Joschka Fischer war auch deshalb oft in New York. Ich erinnere mich, das er gerne Hemden bei Brooks Brothers kauft.

Klappe halten und zahlen

Dann bittet Sonden ins Heiligste, den Weltsicherheitsrat. Ein Wort, das man – besonders auf Englisch (Security Council) – aussprechen kann wie Commander-in-Chief. Der von Norwegen gestiftete Raum sieht aus wie das verlassene Set eines Steven-McQueen-Films. Sowieso wirkt das modernistische Gebäude mit seinen verblassten Farben nicht wie eine optimistische Idee, sondern mehr wie ihr Mahnmal. Björn Sonden erklärt, die Delegationen müssen sich rund um die Uhr bereithalten, um spätestens nach zwei Stunden eine Sitzung beginnen zu können. Burkhardt Rosebrock will wissen, wer zuschauen darf. „Sie brauchen eine Einladung“, sagt Soden, die Konferenzen sind nicht öffentlich, „mit einem Hausausweis können Sie aber meistens einen Platz bekommen“, fügt er hinzu und merkt nicht, wie peinlich diese Antwort ist.

Rosebrock ist Landwirt, „in Klein Zecher“ sagt er. Das ist in Schleswig-Holstein, 235 Einwohner, er leitet die Feuerwehr dort. Hat er von Schröders Rede in Tokio gehört? „Verrückt ist der, größenwahnsinnig“, so der 58-Jährige, ohne zu zögern. Seine Haltung: „Klappe halten und zahlen. Damit sind wir ganz gut gefahren nach allem, was wir im letzten Jahrzehnt verbrochen haben.“ „W-i-r“, sagt der Mann ernst, die feinen Falten in seinem Gesicht gespannt. Die Führung ist zu Ende. Draußen regnet es noch immer Bindfäden. Auf einem Fernseher neben uns schaltet das Bild von Putin auf Schröder. Er grinst Grübchen.