Warum die Türkei in die EU muss

Cemalettin Cetin, 75, gründete in den 60er-Jahren die ersten türkischen Arbeitervereine in Berlin. Heute leitet er eine Beratungsstelle für türkische Familien.

„Ich bin im April 1961 als Korrespondent der türkischen Zeitung Aksam nach Berlin gezogen. Wenige Monate später kamen die ersten türkischen Gastarbeiter in Deutschland an. Sie kamen aus winzigen anatolischen Dörfern und die meisten hatten noch nie im Leben eine Fabrik gesehen. Ich habe ihnen gezeigt, wie man sich auf dem Arbeitsplatz verhält und wie man den Bus benutzt. Manche kannten nicht mal eine Toilette.

Seitdem hat sich viel getan in der Türkei. Das Land hat sich entwickelt, aber vieles ist noch nicht so, wie es sein sollte. Es gibt keine geregelte Sozial- und Arbeitslosenhilfe und wir brauchen bessere Bildungsmöglichkeiten. Wenn ich sehe, wie in der Türkei mit Menschenrechten umgegangen wird, dann tut mir das weh. Diese Dinge müssen geklärt sein, bevor die Türkei in die EU kommt.

Ich war immer für eine Gastmitgliedschaft der Türkei in der EU. In den 90er-Jahren habe ich mehrere Briefe mit diesem Vorschlag an das Europäische Parlament geschrieben. Die Türkei braucht Europa zum Lernen. Ich bin sicher, die Lebensverhältnisse hätten sich so schneller angeglichen. Und die Europäer hätten früher Kontrolle über die Reformen gehabt. So haben sie immer nur gefordert und ab und zu ein paar Leute geschickt, die geschaut haben, wie es gerade in den Gefängnissen so ist.

Die EU hat der Türkei immer Bonbons in den Mund gesteckt. War das eine aufgegessen, gab es das nächste. So wurde das über 40 Jahre gemacht. Jetzt ist es Zeit, dass die Versprechen umgesetzt werden. Eine schunkelnde Lösung darf es nicht geben. Wir brauchen keine privilegierte Partnerschaft mehr, die besteht schon seit der Zollunion 1996. Sie hat der Türkei Wohlstand gebracht.

So wird es nun auch umgekehrt sein. Meine Geschwister leben noch in der Türkei. Sie sind alt geworden, und wenn ich mit ihnen spreche, fürchten sie, dass mit dem Beitritt zu Europa unsere Sitten und Werte verloren gehen. Aber ich glaube, die sind zu tief verwurzelt, als dass sie vernichtet werden können. Die Chancen besonders für die jungen Leute werden überwiegen.

In Deutschland haben viele Angst, dass mit der EU noch mehr Türken kommen werden. Und ich glaube, sie haben Recht. Viele Türken sind arm und Europa ist wie ein Haus. Die Türken werden auch in die anderen Zimmer gucken wollen. Und wenn es ihnen dort besser gefällt, werden sie bleiben. Darum bin ich dafür, dass die EU klare Begrenzungen zur Zuwanderung schafft.

Ich selbst bin seit 1991 deutscher Staatsbürger. Ich habe eine deutsche Frau und meine Tochter ist ebenfalls mit einem Deutschen verheiratet. Für sie hat der EU-Beitritt der Türkei kaum eine Bedeutung. Aber meine Werte und Ideen sind türkisch geblieben.“ PROTOKOLL: KARIN LOSERT

Sengül Boral, 30 Jahre alt, lebt in Berlin, wo sie nach abgeschlossenem Medizinstudium gerade promoviert. Sie hat Theater gespielt, Hörspiele aufgenommen, sich viel mit Musik beschäftigt.

„Ich bin im Osten der Türkei aufgewachsen. Bis ich fünf war, lebte ich dort in Dersim, in den Bergen. Dann zog ich mit meiner Mutter nach München, wo mein Vater schon als Gastarbeiter hingekommen war. Ich sprach nur Zaza und Krimanci, für mich waren also nicht nur die deutsche Sprache und Kultur völlig neu, sondern im Prinzip auch die türkische. Deshalb war Deutschland zwar spannend für mich, aber es war auch befremdlich.

Zuerst lernte ich vor allem Türkisch, da ich auf eine türkische Schule gehen sollte. Laut Pass war ich ja ein türkisches Kind. Deutsch ergab sich so nebenbei. Meine Eindrücke vom deutschen Alltag waren nicht nur positiv, aber okay. Die ‚Türken‘ in Deutschland habe ich als Kind zum Teil als sehr emotional verwirrend empfunden. Da gab es Reibung auf dem Spielplatz, aber man wusste auch schneller, wer doof war. Die ‚Deutschen‘ wirkten aufgeräumt, nicht im negativen Sinne. Es hat mich nur verstört, wenn ich das ungewisse Gefühl hatte, ausgegrenzt zu werden. Die Türken sagen es direkter, wenn sie dich nicht akzeptieren. Deutsche vermitteln das oft subtiler und man schnallt es manchmal erst viel später.

Türken in Deutschland, ‚der Türke an sich‘, wer ist das denn eigentlich? Den gibt es nicht. Der ist vielleicht in den ganzen pseudointellektuellen TV-Diskussionen als unfassbares Rumpelstilzchen geboren worden und wieder ausgestorben. Es gibt eine bunte Palette an Menschen aus der Türkei. Und es ist sehr oberflächlich, dass das auch in der Debatte über den EU-Beitritt nicht gesehen wird. Es gibt doch die unterschiedlichsten Typen: religiöse, freakige, schwule Türken, Arbeiter, Künstler oder Möchtegern-Irgendwas, emanzipierte türkische Frauen und Hausmütterchen. Und was sind überhaupt Deutsche? Kommt es darauf an, wo du geboren bist, welches Blut du in dir trägst? Es macht mich betroffen, wenn ich mit Kommilitonen eben noch zusammen gekocht habe oder wir Trinken waren, und im nächsten Moment sprechen sie mich bei der Fußball-Europameisterschaft direkt an, wenn sie darüber herziehen wollen, dass die Türken schlecht spielen und zum Glück schon rausgeflogen sind. Warum sagen sie das nicht zu Helga, die neben mir sitzt? Beim Thema Europa geht es auch um Fragen wie: Wie viel Angst hat man voreinander? Oder: Wie setzt man sich mit anderen Menschen auseinander?

Natürlich ist die Türkei ein anderes Land als Frankreich, aber sie gehört in die EU. Und sie hat ein Versprechen erhalten. Es wird so getan, als mache man da einen Käfig auf mit lauter gruseligen Kreaturen drin. Ich würde jedenfalls gern mal einen triftigen Grund hören, warum die Türkei nicht zur EU gehören sollte. PROTOKOLL: JULIANE GRINGER

Mehmet Daimagüler, 36, arbeitet als Jurist in einer Unternehmensberatung und ist Mitglied im Bundesvorstand der FDP. Zurzeit forscht er an der Kennedy School of Government der Universität Harvard.

„Ich liebe die Dynamik und den Optimismus in der Türkei. So ähnlich muss das auch in Deutschland in den 50er-Jahren gewesen sein. So eine Aufbruchstimmung wünsche ich mir auch in Deutschland wieder. Ich mag das Kosmopolitische Istanbuls und das reiche kulturelle Erbe der Türkei. Politiker die behaupten, dass das Land nicht zu Europa gehört, haben eine seltsame Vorstellung von Europa und seiner Geschichte. Europa ist schließlich mehr als ein großes Oberammergau.

Wer geografisch gegen einen EU-Beitritt der Türkei argumentiert, der denkt zu banal. Europa ist ein Reflex auf unsere schreckliche Vergangenheit der Kriege und der Unterdrückung. Gemeinsame Ziele sind doch Frieden, Demokratie und Wohlstand. Diese Ziele enden nicht plötzlich am Bosporus.

Ich mache mir keine Sorgen um eine Türkei, die in die EU will. Ich würde mir Sorgen machen über eine Türkei, die keine Lust auf Europa hat. Auch wenn die Brückenphrase ziemlich abgedroschen ist: Für die Türkei trifft sie zu. Die EU schlägt eine Brücke zur islamischen Welt.

Dass von der CDU/CSU mit der Unterschriftenidee Populismus ausprobiert wurde, halte ich für unverantwortlich, das Aufhetzen von Menschen schadet dem Gemeinwesen. Aber auch von einem Referendum zum Beitritt eines einzelnen Landes halte ich nicht viel. Die EU-Bürger sollten über Grundsatzentscheidungen wie ihre künftige Verfassung abstimmen können. Die Aufnahme der Türkei ist eine wichtige, aber eben keine fundamentale Entscheidung für die Zukunft Europas.

Ein solcher Populismus ist aber auch möglich, weil das Türkeibild der Deutschen auch von den hier lebenden Türken geprägt wird. Da sollten wir Deutsch-Türken uns mal an die eigene Nase fassen. Türkische Väter, die ihren Töchtern das Abitur verbieten oder türkische Jugendliche, die in Kreuzberg Schwule und Lesben anpöbeln, tragen eben nicht unbedingt zu einem positiven Türkeibild bei. Selbstgettoisierung hat nichts mit der Wahrung kultureller Identität zu tun. Ich wünsche mir mehr Selbstkritik innerhalb der türkischen Gemeinde und eine insgesamt größere Integrationsanstrengung.

Ich denke, dass sich durch einen EU-Beitritt der Türkei auch das Leben der hier lebenden Türken verändern wird. Es wird ein selbstverständlicheres Dasein, weil wir als ein Teil Europas und seiner Kultur anerkannt würden. Sicherlich wird ein Teil der Deutsch-Türken auch sein Glück in der Türkei suchen und zurückgehen. Wegen des guten Wetters und der deutschen Küche ist schließlich niemand nach Deutschland gekommen.

PROTOKOLL: PHILIPP DUDEK