Wie gut ist die Oper in Bremen?

Ein Blick aus der Distanz von Frieder Reininghaus

Dem armen Redakteur Marzluf möge sein Blatt etwas Reisegeld bewilligen

Was „gute Oper“ ist – darüber besteht in der Regel weder unter den Machern noch unter den Rezensenten oder den treuen Theatergängern Konsens. Ein internationaler oder weltweit verbindlicher schon gar nicht. Denn die Blickwinkel und Hörweisen weichen notwendigerweise an den einzelnen Orten und zu verschiedenen Zeiten ebenso stark voneinander ab wie die zur Diskussion stehenden Produkte. Gerade in der Vielfalt liegen ganz wesentlich die Chancen, der Reiz und die kulturelle Bedeutung von Musiktheater.

Dennoch gibt es überprüfbare Kriterien für die musikalisch-technische Qualität von Solo-, Chor- und Orchester-Leistungen im Musiktheater, für die Stimmigkeit, Plausibilität und Suggestionskraft der Bühnenereignisse; insbesondere auch für das Preis-Leistungs-Verhältnis von Opernarbeit.

Ende des 18. Jahrhunderts verschlang die Stuttgarter Hofoper des berüchtigten Herzogs Carl Eugen einen ungleich höheren Anteil am Staatsbudget als die heutige Staatsoper in der Schwabenmetropole, und die Opéra in Paris erwirtschaftete im mittleren 19. Jahrhundert mit den großen Werken Giacomo Meyerbeers einen erheblich größeren Anteil am französischen Bruttosozialprodukt als der heute von Gérard Mortier geleitete Großbetrieb. Wie aber die einzelnen Theater auf die veränderte gesellschaftliche, kulturelle und Medien-Situation reagieren – das gehört entscheidend zu den Qualitäten.

Das Bremer Theater hat in dieser Hinsicht in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten bemerkenswertes Gespür bewiesen. Da es angesichts seiner ausgesprochen sparsamen, inzwischen fast spärlichen finanziellen Ausstattung mit dem Starsänger- und Opulenzausstattungstheater, wie es an der Wiener oder Münchener Staatsoper teilweise möglich ist, nicht mithalten kann, wurden konsequent neue Akzente gesetzt: Die Bremer erhielten kontinuierlich neue Stücke, die dem dortigen Theater ein individuelles und in der europäischen Theaterlandschaft einmaliges Gepräge gaben: Detlev Heusingers „Turm“ (1989), Lorenzo Ferreros „Charlotte Corday“ (1990), Adriana Hölszkys „Bremer Freiheit“ (1994), Johannes Kalitzkes „Molière“ (1998), Detlev Glanerts „Jud Süß“, Sidney Corbetts „Noach“ (2001), zuletzt Giorgio Battistellis „Der Herbst des Patriarchen“ (2004) seien als Highlights in dieser singulären Suite genannt. Das Problembewusstsein, die musikalische und dramatische Intensität oder Brisanz dieser Linie hat in keiner Weise nachgelassen. Die überregionale Kritik zollt hohe Anerkennung, auch wenn es – alles andere wäre Lobhudelei – gegen einzelne Inszenierungen den einen oder anderen ästhetischen Einwand gibt. Die fortgesetzten Versuche mit Neuem – und dazu gehört ausdrücklich auch Helmut Baumanns Musical-Ansatz – unterliegen notwendigerweise einer gewissen Schwankungsbreite hinsichtlich des Gelingens.

Der Feuilleton-Chef des Weser-Kuriers hat sich Ende November zu dem (offensichtlich kulturpolitisch motivierten) Pauschal-Urteil aufgeschwungen, das Niveau der Bremer Oper sei „seit Jahren sukzessive gesunken“. Damit straft er sich selbst Lügen und macht sich zum Hanswurst. Denn noch zu Beginn der laufenden Saison bedachte er Philipp Himmelmanns Mozart-„Entführung“ mit höheren Weihen (da lag in Arnulf Marzlufs Augen „… von Anbeginn ein Segen über dem Abend“) und zollte der ebenfalls von Lawrence Renes musikalisch geleiteten, von Peer Boysen inszenierten Puccini-„Turandot“ hohe Anerkennung („Es ist eine mit mythischen Bildern und Rätseln wie rationalen Offenbarungen gleichermaßen spielende Inszenierung, die von großer Treue gegenüber dem Stoff wie der Musik gekennzeichnet war.“)

Es kann hier nicht darum gehen, die Opern-Arbeit in Bremen zu „evaluieren“ (was ohnedies ein problematisches bis sinnwidriges Unterfangen wäre). Ich habe dort in den letzten Jahren nur zwei Dutzend Neuproduktionen besprochen, keine Repertoire-Vorstellungen besucht. Nach dem Eindruck freilich, den das Solisten-Ensemble, der Chor und das unter verschiedenen Dirigenten auch unterschiedlich leistungsfähige Orchester bei den Premieren hinterließen, ist Klaus Pierwoß nicht nur eine charakteristische Programmgestaltung und ein bemerkenswerter Schub des Neuen gelungen (auf den sogar die ansonsten eher reaktionsschwache Musik- und Theaterwissenschaft bereits aufmerksam wurde), sondern er vermochte – im Rahmen der gegebenen finanziellen Ausstattung – ein Gesamtniveau auszutarieren, das deutlich über dem vergleichbarer Stadt- oder Staatstheater liegt. Die „Trefferquote“ der Oper in Bremen liegt ungleich höher als die in Nürnberg, Mannheim oder gar Saarbrücken. Dem armen Redakteur Marzluf möge sein Blatt etwas Reisegeld bewilligen, damit er sich ein bisschen umtun und Vergleichsmaßstäbe entwickeln, überhaupt ein bisschen Märzluft schnappen kann. Im Juni sollte er dann freilich spätestens wieder am Goetheplatz einsitzen: Kalitzkes „Inferno“ verspricht Furore zu machen.