Seid umschlungen!

Die Aussicht auf 25 Millionen Euro verwandelt uns in ein Volk von Zockern: Noch nie gab es in der Geschichte des Lottos so viel zu gewinnen wie heute („Ziehung am Mittwoch“ um 18.50 Uhr im ZDF)

VON ARNO FRANK

Eine Insel im Pazifik? Ein nagelneuer Kampfjet vom Typ F-16? Oder doch lieber ein Privatkonzert von Pink Floyd, im heimischen Wohnzimmer? Ja, man wird wohl noch träumen dürfen. Aber kaum etwas dominiert derzeit die Träume der Menschen so sehr wie die Frage, was sich mit der astronomischen Summe von 25 Millionen Euro wohl alles anstellen ließe – alles eben.

Ein reizvoller Gedanke, dem sich auch die größten Skeptiker nicht entziehen können: Auf jeden einzelnen Euro im Jackpot, der nun siebenmal in Folge nicht geknackt worden ist, kommt deshalb diesmal ein hoffnungsvoller Tipper. Egal, schaden kann’s nicht, oder?

Ein Spielverderber, wer da nicht mitmacht. Oder ein Idiot. Wen kümmert noch die denkbar unwahrscheinliche Wahrscheinlichkeit von sechs Richtigen? Hey, es geht um 25 Millionen! Das Fieber hat sich zu einem Delirium gesteigert, wie wir es seit dem Boom der New Economy nicht mehr erlebt haben. Weil diesmal, wie unter Zwang, auch jene ihre Kreuzchen machen, denen das Lottospielen immer eine tendenziell alberne Angelegenheit zu sein schien. Könnte ja sein, dass es klappt.

Darauf, dass es klappen könnte, spekulieren Woche für Woche Spieler und Spielerinnen, die unter normalen Bedingungen für diese Spekulationen belächelt werden. Mit den mythischen Millionen im Jackpot wird ein Elend manifest, das zu lindern der ideologische Sinn der staatlich sanktionierten Zockerei ist.

Wie trist, mühsam oder ungerecht das Leben auch sein mag – jede „Ziehung der Lottozahlen“ kann uns davon erlösen, als wäre es ein heiteres Provisorium. Wo „Geld“ und „Glück“ als austauschbare Begriffe behandelt werden, erscheint Lotto als egalitäre Errungenschaft: „Wenn Sie den 25-Mio.-Jackpot knacken“, rechnet die Bild-Zeitung ihren Lesern vor, dann „sind Sie ungefähr genauso reich wie Rocksänger Marius-Müller-Westernhagen“ – und für die Bluthunde von der Bild-Zeitung genauso interessant wie „Lotto-Lothar“, der vor neun Jahren fast vier Millionen Mark gewonnen hatte und daran zugrunde gegangen ist, der Depp. Wir würden mit diesem Reichtum wesentlich sinnvoller umgehen, versteht sich – und träumen dann doch von Konten auf den Bahamas und einer Yacht im Hafen von Mallorca.

Trotzdem verursacht der allgemeine Ansturm auf die Annahmestellen seelisches Sodbrennen. Wer von mythischen Millionen träumt, träumt eben keine anderen, womöglich leichter zu realisierende Träume.

Gegen Geld ist nichts einzuwenden, wohl aber gegen den entwürdigenden Effekt, dass die Aussicht auf totale finanzielle Freiheit alle unsere Wünsche okkupiert – beim einen mehr, bei vielen anderen allerdings weit weniger spielerisch.

Lotto, das ist ein säkulares Heilsversprechen – und das „ganz große Geld“ ist die höchste Gnade, die uns in dieser Zeit zuteil werden kann. Ist das obszön?

Wenn nicht heute, dann nächstes Mal. Wenn nicht nächstes Mal, dann übernächstes Mal. Und wenn’s dann immer noch nicht klappt, dann gehen wir einfach zu „Wer wird Millionär?“. Glücksfee Günther Jauch tut’s auch. Kann ja nix schaden.