„Glamour vermisse ich nicht“

Ihn treibt das Schicksal von Straßenkindern um. Um ihnen zu helfen, muss sich das Bewusstsein verändern, sagt der ehemalige „Derrick“-Schauspieler und heutige Künstlerseelsorger Pater Astan

INTERVIEW PHILIPP GESSLER

taz: Thomas Astan, Sie engagieren sich für die Straßenkinder in Entwicklungsländern, etwa in Brasilien, warum nicht für die Straßenkinder in Berlin?

Pater Astan: Die Straßenkinder in Berlin sind schwer fassbar, weil sie sich verstecken, das heißt, sie sind nicht so sichtbar wie in Ländern der „Dritten Welt“. Hier sind dies Kinder, die gegen das System sind, die diesem Leistungsdruck nicht standhalten können. Sie tun sich zusammen, um diese Situation außerhalb der Gesellschaft zu ertragen. Viele sind auch bei den Drogen gelandet. Um die Drogen zu beschaffen, landen viele von ihnen bei der Prostitution – so ist dies ein Teufelskreis. Wenn jemand heraus will aus dieser Lage, sagt man, gebe es viele Institutionen, dass sie das können. Aber das ist nicht der Fall.

Ein Grund mehr, sich gerade für die Straßenkinder hier zu engagieren.

Ja. Ich helfe hier vier jungen Leuten, die schon Anfang 20 sind. Die hausen zu viert in einer Wohnung. Ich treffe mich auch ab und zu mit ihnen. Aber sie wollen auch nicht in diese Gesellschaft zurück. Sie wollen sich nicht wieder diesem Leistungsdruck unterwerfen, obwohl sie nicht doof sind. Aber sie sind abhängig von Drogen. Weil sie Geld dafür brauchen, sind sie in diesen Schwierigkeiten.

Heißt das, den Berliner Straßenkindern ist schwerer zu helfen als etwa denen in Brasilien?

Würde ich schon sagen. In den Drittweltländern sind sie offensichtlicher. Es gibt dort Einrichtungen, die sie auffangen, auch Orden, die teilweise von Deutschland aus getragen werden. Das Bewusstsein in Lateinamerika hat sich nach und nach geändert. In Brasilien, immerhin, wurde jetzt ein Mitglied unseres Ordens von der Regierung damit beauftragt, sich um das Problem zu kümmern. Andererseits ist es auch nicht erklärbar, dass etwa die Regierungen von Indien und Pakistan Millionen von jungen Menschen verkommen lassen im Dreck, aber Milliarden verplempern für diese idiotische Atombombe. Es sind immer ambivalente Geschichten.

Warum rührt uns das Elend von Straßenkindern so: Weil es Kinder sind und weil sie für ihr Schicksal nichts können?

Ja, stimmt. Es sind Kinder, die unverschuldet in Not geraten sind. Das ist ein Mechanismus, der da funktioniert: Durch die Weltmarktpreise, durch die Monokulturen und eine falsch verstandene Globalisierung, die aus den Menschen immer noch mehr rauspressen will, geraten diese Kinder in diese Notsituation, weil die Eltern, die Väter arbeitslos werden. Und gerade in Lateinamerika, wo die Väter in ihren Machismo-Gedanken leben, wissen sich die Väter nicht mehr zu helfen. Also fangen sie an zu saufen. Damit ist der Teufelskreis der Gewalt vorgegeben. Kinder werden geprügelt. Sie müssen auf die Straße gehen, um was zu verkaufen, und werden dann noch den Launen dieser Väter ausgesetzt, die trinken – und irgendwann kommen sie halt nicht mehr nach Hause. Sie bleiben auf der Straße. Aber ich habe noch kein Straßenkind gesehen, das in einer unserer Hilfsinstitutionen einen Beruf erlernt und danach keine Arbeit bekommen hat.

Sie sind häufiger in den Favelas von Lateinamerika. Sie beobachten das Elend dort auf der Straße. Widert Sie danach in Deutschland die Konsumgesellschaft manchmal an?

Eindeutig. Sie kennen das Zitat von Max Liebermann: Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte. Etwa wenn man dann in diese Tempel des Konsums geht, in dieser Zeit, in der Weihnachtszeit, die inhaltlich völlig entleert wurde, und das Einzige, was noch übrig ist, ist der Konsum. Nur die Wünsche steigern sich immer weiter.

Andererseits: Wenn es hier keinen Überfluss gäbe, wäre für da unten kein Geld da.

Ja, gut, das ist auch richtig. Dennoch ist die zunehmend um sich greifende Mentalität, dass man nur noch wenig über den Tellerrand hinausschaut. Denn was wird gemacht: die Verführbarkeit, der wir alle erliegen können, wird gesteigert durch diese Lichter an den Konsumstätten, gerade zur Weihnachtszeit. Es wird alles veräußerlicht. Durch diese Veräußerlichung fallen andere hinten runter. Ich habe schon mit Freunden, Therapeuten oder Psychologen, gesprochen und sie gefragt, wie das passiert, dass die Dankbarkeit verloren geht, wenn man mehr und mehr bekommt? Warum keine Dankbarkeit mehr bei Leuten ist, die es geschafft haben, viel Geld verdient haben?

Da Sie sich in erster Linie in Lateinamerika für die Straßenkinder engagieren: Sind Sie Anhänger der dortigen Theologie der Befreiung, die sagt, dass auch Straßenkinder die Konsequenz einer kapitalistischen, ausbeuterischen Weltwirtschaftsordnung sind?

Ja, das bin ich. Es gab in dieser Theologie viele Entleihungen aus dem Marxismus oder Kommunismus, die aber mittlerweile raus sind. Aber wenn man die äußeren Situationen, die Strukturen da unten nicht verändert, kann man auch das Schicksal der Kinder beziehungsweise der Eltern nicht verändern. Es müssen sich dort unten die sozialpolitischen Strukturen ändern. Wie weit das Gewaltmonopol des Staates dort unten gelten sollte, das will ich mal dahin gestellt lassen.

Wie meinen Sie das?

Es gab verschiedene Richtungen der Befreiungstheologie, von denen einige auch gewisse Teile von Gewalt postuliert haben, das heißt, dass man auch an Gewalt denken soll, an Revolution und Ähnliches. Deswegen wurde diese Theologie auch von Rom immer mehr abgelehnt. Aber es kann nur um einen ganzheitlichen Ansatz gehen, dass man dort unten was verändern muss. Zunächst aber sollte man das Bewusstsein verändern.

Gewalt wäre nach Ihrer Ansicht bei so einer Veränderung oder Revolution nicht ausgeschlossen?

Tja, gehen wir in die konkrete Situation hinein: Alle Länder Südamerikas und Mittelamerikas sind Eroberungsländer. Es ist also von außen Gewalt ausgeübt worden. Es kamen Eroberer, die sich das Land unter den Nagel gerissen haben. Und es ist noch heute so, dass 10 Prozent der Menschen in diesen Ländern 90 Prozent des Landes in diesen Staaten haben. Wir haben das ja bei den Bauernaufständen in Mexiko gesehen: Da schaukelt sich Gewalt auf, die Regierung setzt Gewalt ein, dann kommt die Gegengewalt. Lange Jahre hat man das bei der Theologie mit einkalkuliert: Dann wird es die Anwendung von Gewalt eben geben.

Muss die Kirche, das ist eine Forderung der Theologie der Befreiung, selbst arm werden? Auch in Deutschland, gar weltweit? Ist sie noch zu reich?

Manchmal ist man in der Gefahr, das zu glauben. Wir dürfen es nicht verschweigen, dass die Kirche über Jahrhunderte auf der falschen Seite gestanden hat, dass sie einen Pakt mit den Reichen eingegangen ist. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) gab es die so genannte Option für die Armen. Die Kirche hat einen Schwenk gemacht. Sie hat ihre Schleppen, gottlob, endlich abgeschnitten! Die Kirche hat sich auf die andere Seite bewegt. Dort unten ist man auf einem guten Wege. Hier im Norden – na ja, Sie wissen ja, was hier im Erzbistum los ist.

Hier in Berlin gibt es zumindest eine völlig verschuldete Kirche.

In anderen Diözesen ist es ähnlich.

Weltweit gesehen, ist die deutsche Kirche immer noch eine ziemlich reiche Kirche.

Ja. Wie weit geht da das Denken: Kann man Immobilien abstoßen, die man eigentlich für irgendwelche Notsituationen auch noch haben sollte? Insgesamt, sicherlich, müsste der Auftrag an die Kirche radikaler gefasst werden.

Sie haben als Schauspieler in einer Welt des Scheins gelebt. War Ihnen diese Welt zu platt, haben Sie deshalb Ihren Beruf gewechselt?

Auch das. Ich möchte vom Schauspielerleben nichts rückgängig machen. Es half mir, über viele Defizite wie Hemmungen hinwegzukommen. Ein spielerischer Zugang, weil meine Rollen natürlich auch vieles von mir hatten an Mängeln. Und jemand, der Mängel hat, lässt sich besser darstellen als jemand, der perfekt ist. Ich habe fast nur die Rollen von Intellektuellen bekommen. Das war mir zu platt. Viele Rollen nahm ich an, um in populären Serien dabei zu sein, meinen Bekanntheitsgrad und so die Gage zu steigern – das sind dann solche Mechanismen. Aber dann immer wieder sich vorzustellen, zu warten, die Rollen nicht selber schreiben zu können, das war schon eine Ambivalenz, unter der ich sehr gelitten habe. Deshalb habe ich ja auch 1980 den Wechsel in die Regie gemacht.

Hilft Ihnen heute Ihre damalige gute Ausbildung als Schauspieler und Ihre jahrelange Erfahrung, etwa bei Verhandlungen oder bei repräsentativen Aufgaben?

Einmal habe ich ja bei den Schauspielakademien Rhetorikunterricht genommen. Ich habe früher eine dialektale Färbung gehabt, etwa das rheinische „L“. Geholfen hat die Ausbildung sicher auch beim Stimmvolumen. In der Ausbildung hat sich meine Stimme um fast eine Oktave gesenkt. Die Kirche sollte ihre Leute besser rhetorisch ausbilden lassen, denn die Hörgewohnheiten der Leute haben sich geändert. Noch in den kleinsten Sendern hören Sie geschulte Stimmen. Wenn die Kirche wirklich was zu sagen hat, warum soll sie dahinter zurückfallen? Es ist Handwerk, das erlernbar ist.

Vermissen Sie manchmal dieses leichtere, unbeschwertere Schauspielerleben? Sie umgeben sich mit viel Elend.

Das leichtere Leben – ich weiß nicht, ob man das so sagen kann. Es ist der äußere Glanz und Glamour. Wenn Sie bedenken, wie viele tausende Schauspieler in den großen Städten wie Hamburg, München und Berlin nie eine Karriere gemacht haben oder vielleicht mal kleinere Rollen bekommen haben. Für die ist das Leben verdammt hart. Was den Glamour angeht: Den vermisse ich in keiner Weise.

Würde es Sie noch mal reizen, zu schauspielern oder Regie zu führen?

Regie führen würde ich schon ganz gern noch mal. Aber dazu braucht man mindestens drei Monate, und das ist eine lange Zeit. Man müsste den Betrieb kennen. Der Ausdruck der Regie ist auch an ihre jeweilige Zeit gebunden, ebenso wie die Themen. Nicht alle Themen passen in die heutige Zeit. Da wieder ins Theater hinein und Regie führen, das wäre schon eine schwierige Sache. Und schauspielern – nein, die Zeit ist vorbei.

Sie haben gesprochen von den Schauspielerkollegen, die kämpfen müssen, um überhaupt überleben zu können, während Sie das offenbar aufgrund Ihres Talentes nicht mussten. Haben Sie manchmal das Gefühl, Sie hätten Ihr Talent, das Ihnen von Gott gegeben wurde, nun vergraben, wie die Bibel es sagt, anstatt etwas daraus zu machen?

Das glaube ich nicht. Wenn ich Straßenkindern helfen kann, dann ist dies ein Weitergehen. Ich habe da ja nichts vergraben. Sicher, ich habe Glück gehabt, vielleicht auch durch äußere Umstände. Ich habe einen Typ verkörpert, teilweise bin ich es ja auch, der gebraucht wurde. Das alles in Ehren. Aber es sind auch so viele nachgewachsen. Da kann man wirklich auf mich verzichten.

Na ja, Männer werden in jedem Alter auf der Bühne oder vor der Kamera gebraucht.

Richtig, aber wozu lässt man sich einspannen? Die „jungen Helden“, wie es früher hieß, die jetzt gebrochen sind und dann die Väterrollen annehmen – das muss alles mit der eigenen Persönlichkeit zusammenpassen. Was ich jetzt mache, halte ich für sinnvoller. Es klingt vielleicht etwas pathetisch: Aber ein Kinderlachen ist wertvoller als der Applaus auf der Bühne.