„Wer 110 wählt, hat nix anderes mehr“

Rund um die Uhr ist der Polizeinotruf besetzt. Bei Werder-Heimspielen ist es fast wie an Silvester: Dann gibt es auch mal hundert Einsätze in acht Stunden. Aber nicht jeder eingehende Anruf ist ein echter Notfall – manchem wird auch der Kopf zurecht gerückt

Bremen taz ■ Es ist ein Uhr nachts, es ist kalt und glatt, die Fenster des Polizeipräsidiums in der Vahr sind dunkel. Doch im vierten Stock hocken fünf Männer vor Bildschirmen und Telefonen. 55 Anrufe kamen hier in den letzten vier Stunden an. „Wenn es die ganze Nacht so ruhig bleibt, wird es hart“, knirscht der Einsatzleiter vom Dienst, Hans-Joachim Dreyer. Denn den toten Punkt zwischen vier und fünf Uhr überwindet die Belegschaft der Notrufzentrale leichter, wenn das Adrenalin pumpt. Oder wenn wenigstens ab und zu jemand 110 wählt. Wie am Nachmittag. Da war noch die Hölle los, Werder-Heimspiel. „Hundert Einsätze in acht Stunden, fast wie an Silvester“, sagt Dreyer. „Aber jetzt sitzen die Fans wohl schon im Warmen.“ Dann geht der elektronische Klingelton doch.

„Polizeinotruf“. Distanziert und sachlich meldet sich Polizeioberkommissar Klaus Soller und legt postwendend wieder auf. Es hatte nur jemand mit einem geklauten Handy gespielt. Nur der SOS-Knopf funktioniert bei diesen Telefonen noch. Als 450000-Nummer erscheint solch ein Ärgernis auf ihren Bildschirmen – wie die Nummer jedes beliebigen anderen Anrufers auch.

„Seit sich herumgesprochen hat, dass wir Anrufe zurückverfolgen können, gehen Bombendrohungen seltener ein“, sagen die Notruf-Leute lachend. Sie würden wie Sieger wirken – wäre da nicht die steigende Flut fehlgeleiteter Handy-Notrufe. Gerade raschelt es aus einem Hörer. Der Beamte schüttelt verärgert den Kopf. „Da trägt jemand das Handy in der Tasche rum und merkt nix.“ Wenn es geht, ruft er zurück: „Polizei. Notruf. Sie haben uns eben angerufen“, sagt er dann mit strenger Stimme. Von gespielter Ahnungslosigkeit bis zur Entschuldigung erntet er alle möglichen Reaktionen. „Diese Leute besetzen unnötig unsere Leitungen“, klagen die Beamten. Ihr Motto: „Wer 110 wählt, der hat nix anderes mehr.“ Für diesen Fall soll immer eine der zehn Leitungen frei sein.

Dabei kommt der Notfall oft ganz unauffällig daher. Anders als im Fernseh-Krimi, wo der Filmschnitt Gefahr suggeriert und der Polizist den Hörer auf die Gabel wirft, losflitzt oder Befehle schreit, muss im echten Leben die Gefahr erst analysiert werden. Aus der Ferne des Polizeipräsidiums. Erst danach rückt ein Einsatzwagen aus – auf Dringlichkeitsstufe drei, zwei oder – ganz eilig – eins. Nach spätestens acht Minuten soll der Polizeiwagen vor Ort sein. „Meistens sind wir schneller“, sagen die Beamten. Wie schnell, das erkennen sie an der Rückmeldung des Einsatzwagens. Computergesteuert. Die Gefahrenabschätzung aber ist allein ihre Sache.

Wenn am anderen Ende jemand aufgeregt in die Leitung schreit, gilt das nicht unbedingt als Beleg für objektive Gefahr. Eher für subjektive Not – die die Gefahrenanalyse erschwert. Je aufgeregter also die Anrufer sind, desto härter arbeiten die Beamten in der Notrufzentrale – der vorletzten frauenfreien Abteilung bei der Bremer Polizei. „Hier sitzen nur Leute, die schon x Jahre Streife auf dem Buckel haben“, heißt es. Deshalb seien alles Männer, keiner unter 45. Jeder von ihnen kennt noch die riskanten Winkel und Straßen der Stadt aus Zeiten, als es statt digitaler Vernetzung nur Funk, statt elektronischer Stadtpläne auf Bildschirmen nur Pläne und Lochkarten gab.

Mancher wird da enttäuscht. Die Polizei bestellt nämlich keinen Abschleppdienst, damit jemand wieder in seine Garage kommt. „Suchen Sie sich doch einen anderen Parkplatz“, klärt der Polizist geduldig darüber auf, dass die Notrufzentrale die kleinen Ungerechtigkeiten des Alltags nicht ahndet. Nur um Not und Gefahr dreht sich hier alles – rund um die Uhr. Und doch wird die Anruferin aus Findorff heute einen Hausbesuch bekommen.

„Mal nachschauen“, empfiehlt der Mann aus der Notrufzentrale jedenfalls dem zuständigen Revier, nachdem eine alterszittrige Stimme gemeldet hatte, im Hausflur von Einbrechern eingeschlossen worden zu sein. Ob dort auch ihr Telefon stehe? Die Antwort auf diese Frage hatte die Frau verwirrt offen gelassen. Wie hilflos sie tatsächlich ist, wird jetzt eine Streife vor Ort abklären. Wer 110 anruft, muss darauf gefasst sein, selbst gecheckt zu werden. Und auch wer ungebetene Gäste vor der Haustür stehen hat, darf nicht unbedingt mit einem Einsatzwagen rechnen. Wie die Frau aus der Vahr.

Aufgebracht rief sie am Abend ins Telefon. Zwei junge Männer hätten ihrer Tochter vor der Haustür auf die Nase geschlagen. Nein, Anzeige wolle sie nicht erstatten, aber irgendwie Unterstützung, denn die beiden, „das sind keine kleinen Jungs mehr“, wollten nun ins Haus und den Namen ihres Schwiegersohnes. Dessen Hund hatte gestern einen Familienangehörigen der beiden gebissen. „Das liegt schon alles beim Anwalt.“ – „Warum geben Sie den beiden denn nicht den Namen ihres Schwiegersohnes, wenn der Hund jemanden gebissen hat?“, forscht der Polizist kühl und rät: „Lassen Sie die Männer eben nicht ins Haus, wenn Sie Angst haben. Oder schlägt jemand gegen Ihre Tür?“ Nein, niemand schlägt und niemand will wegen einer unblutigen Nase Anzeige erstatten. Die Anruferin tritt den Rückzug an. Mit der Telefonnummer des nächsten Reviers in der Tasche.

Einer anderen Frau schickt derselbe Beamte später doch den Einsatzwagen. „Notfalls treten wir die Tür ein“, kündigt er intern an. Dabei hatten die ersten gelallten Worte der Frau nur geklungen, als müsste sie mal ihr Herz ausschütten. Wie bei der Telefonseelsorge. Über den toten Hund, über ihr Alleinsein, über ihre Medikamentenabhängigkeit und wieder über den toten Hund zog der Dialog kuriose Kreise. „Das passiert schon mal, dass Tiere sterben“, zeigte der Beamte dabei mehr Geduld als Mitleid, bis auf die klare Polizistenfrage die entscheidende Antwort kam. Wie nebenbei. Zehn Schlaf- und Beruhigungspillen hat die Frau intus. „Es kommt jetzt jemand nach Ihnen gucken. Machen Sie dann die Tür auf“, bekommt sie Anweisung. Als der Beamte zur nächsten Schicht am nächsten Abend antritt, erfährt er, dass er wohl ein Leben gerettet hat. Jeder Anruf wird intern abgeschlossen – nicht nur für die Statistik.

„Man darf die Arbeit nicht mit nach Hause nehmen“, sagen Profis. Sie meinen die leisen Zweifel darüber, ob der Einsatz vielleicht hätte besser laufen können, wenn... „Man muss nach der Schicht einen Strich ziehen“, sagen deshalb Erfahrene wie Soller, der die Monate bis zur Pensionierung an einer Hand abzählt. Die Wenns könnten einen sonst verrückt machen. Ebenso der Frust, der aufsteigt, wenn das Unfallopfer wieder ein Kind war. „Das schwächste Glied. Autofahrer sind immer die Stärkeren“, wird Soller scharf. Manchmal keimt in ihm dann Wut oder, eigentümlich genug, Dankbarkeit. Aus demselben Anlass. „Deine Kinder hatten wohl einfach Glück“, hat er im Stillen schon gedacht. Dann kommt die nächste Meldung: PKW schrammt Bus.

„Überall Glatteis“, sagt ein Kollege laut in den Raum. Es sind minus sechs Grad in der Stadt. „Ich muss unseren Bonsai ins Haus holen“, sagt Soller leise. Ein paar Stunden hat er noch bis dahin. Erst um sechs Uhr früh ist die Schicht für die Männer am Sonntag vorbei. Eva Rhode