Fliehen und knallen

Der Traum ist aus, jetzt kommt Silvester: die neu erwachte Betriebsamkeit der Stadt und ihre Feuerwerksgeschäfte

„Schnell, schnell, wir müssen uns doch beeilen, nun mach schon und komm jetzt endlich.“ Aber das Mädchen, vielleicht zwei Jahre alt, sitzt mit weit von sich gestreckten Beinen auf dem Gehweg vor der Markthalle am Marheinekeplatz und will nicht, wie Mutter will, während sie an seinem Ärmchen zieht. Anscheinend ist die Kleine noch nicht aus ihrem Traum mit Tannenbäumen aufgewacht und hat nicht bemerkt, dass die Stimmung umgeschlagen ist. Xmas is over, alles wartet auf Silvester. Unter den Linden ist zugestaut wegen der Vorbereitungen am Brandenburger Tor, überhaupt steigt die Stimmung jahresendzeitmäßig wie ein Boot, das auf hoher See von einer Welle angehoben wird, um wenig später mit einem harten Schlag tief zurück ins Meer zu sacken. Der Wechsel macht sich als Erstes in der Bekanntschaft bemerkbar: Eben noch von den Familienritualen angeödet, freut man sich nun auf Partys mit fremden Leuten, die man nur an Silvester sieht, weil sie zum Feiern in der Stadt sind.

Am wichtigsten für die kurz vor Schluss plötzlich neu erwachte Betriebsamkeit sind die Feuerwerksgeschäfte, die in den vielen leer stehenden Läden für zwei Tage eröffnet werden. Mit weißer Banderole über der Tür und hübsch bunten Auslagen voller China-Böller und Raketen, die in spätestens drei Stunden weggekauft sind, so dass es drinnen aussieht wie nach einer Plünderung. Toll ist der provisorische Charakter: Morgen früh kleben nur noch paar Fetzen Papier auf der Straße und der Duft von Schwarzpulver. Denn der heutige Tag ist der flüchtigste Tag des Jahres. Genau dieser Leichtsinn in der Vergänglichkeit hilft einem, von einem Jahr ins nächste zu kommen. Der Knallerverkäufer wünscht seinen kaum dreizehnjährigen Kunden einen guten Rutsch und lacht verschwörerisch. HARALD FRICKE