piwik no script img

Angriff von oben

Heute vor 20 Jahren kam es zum Kasseler Straßenkrieg. Ein silvestriges Schlachtengemälde

Silvester 1983 wurde ich zum Deserteur. In dieser Nacht begriff ich, dass es Situationen gibt, in denen nichts mehr geht, die nur noch durch einen schnellen Rückzug und eine konsequente Ablehnung jeglicher Verantwortung zu bewältigen sind.

Begonnen hatte alles als normale Silvesterparty, zu der meine drei Mitbewohner und ich in unsere ein halbes Jahr zuvor gegründete integrative Langhaarigen-/Punkwohngemeinschaft geladen hatten. Da wir die einzige Schüler-WG in unserem Bekanntenkreis waren und wir in den vergangenen sechs Monaten bereits geschätzte 25 „Feten“ zur vollen Zufriedenheit aller Beteiligten ausrichten konnten, rechneten wir mit vielen Gästen. Es kamen mehr.

Schließlich freute ich mich wie ein Kriegsheimkehrer, wenn ich auf dem überfüllten Flur oder in der gestopften Küche mal einem bekannten Gesicht begegnete. Alles, was in Kassel zwischen 15 und 20 Jahren alt war und keine Poppertolle oder Dauerwelle trug, hatte sich bei uns eingefunden. Und alle schienen den Abend zu genießen. Das erfüllte uns mit Gastgeberstolz. Abgesehen von den üblichen kleinen Missgeschicken – umgestürzten Küchenregalen, auf beziehungsweise im Flokati ausgetretenen Zigaretten und einem stundenlang von innen abgeschlossenen Klo – gab es zunächst keine Probleme. Keiner benahm sich richtig daneben, keiner soff oder kiffte sich ins Koma, keiner pöbelte herum. Und so heiterten wir alle um kurz vor null nach unten, um das neue Jahr an der frischen Luft zu begrüßen. Irgendjemand stellte die Boxen ins geöffnete Fenster, und wir beschallten die ganze nächtliche Schönfelder Straße mit Fehlfarbens allseits beliebtem Stimmungshit „Es geht voran“. Ich wage es kaum zu schreiben, aber doch, ja, es wurde auf der Straße getanzt – und dabei waren alle relevanten Tanzstile der jüngeren Geschichte nebeneinander in seltener, harmonischer Koexistenz zu bewundern: eckiges New-Wave-Gewackel, semianthroposophische Ausdrucksschlängeleien und morbid-sportliche Pogo-Hopse. „Good vibrations“ also allenthalben. Auf eine eigenwillige Art nachweihnachtlich friedlich – wenn man das notorische Feuerwerksgeknalle ignorierte. Gut, dachte ich, warum eigentlich nicht, und so wünschte auch ich einem neben mir stehenden Bekannten ein „Frohes Neues, Ulli!“.

Dann flog der erste Kanonenschlag in die daraufhin panisch auseinander spritzende Menge. „Passt doch auf!“, brüllte irgendjemand, wahrscheinlich die besoffene Unvorsichtigkeit eines anderen Partygastes vermutend.

Aber da detonierten auch schon die nächsten Großknaller direkt vor unseren Füßen. „Die kommen von da oben“, sagte Ulli und zeigte auf einen Balkon im zweiten Stock des gegenüberliegenden Hauses. Und tatsächlich: Dort stand ein älterer Mann im Bundeswehrparka und mit Pudelmütze und zündete gerade wieder drei Böller auf einmal an, um sie in unsere Richtung zu werfen. „Ist der irre?“, stammelte ich fassungslos, aber da begann auch schon der Gegenangriff. Markus, der furchtloseste Punkrocker unserer Schule, hob einen der glimmenden Böller auf und versuchte ihn zurück auf den Balkon zu werfen. Er traf zwar nur das Geländer, aber der Aggressor hatte verstanden. Er zeigte mit dem Finger auf Markus und warf den nächsten Kracher gezielt auf unseren Elitestachelkopf. Markus konnte sich im letzten Moment wegdrehen. Das Geschoss prallte von seiner Lederjacke ab und explodierte unmittelbar vor einer kreischenden Ökoelfe.

Von irgendwoher tauchte plötzlich eine Tüte mit Feuerwerkskörpern auf. „Gib her!“, brüllte Markus. Auch andere bedienten sich aus dem Munitionsarsenal. Als der Bombenwerfer die Vehemenz der Gegenwehr begriff, brüllte er irgendetwas durch die geöffnete Balkontür. Daraufhin erschien ein zweiter Mann mit einem offensichtlich randvollen Knallerkarton, den er so schnell wie möglich zu leeren suchte. Zwischendurch flogen leere Bier- und Sektflaschen in beide Richtungen. Ich rannte durch die Menge und suchte nach meinen Mitbewohnern. Wir mussten doch irgendetwas unternehmen, um eine weitere Eskalation zu verhindern! Als ich schließlich Andreas fand, zündete dieser gerade eine Rakete in Richtung des Balkons.

In diesem Moment wusste ich, dass es Zeit war, zu gehen. Ich schnappte mir Ulli und sagte: „Du hast doch vorhin von dieser anderen Party erzählt …“ – „Alles klar“, sagte Ulli, „verschwinden wir!“ Ich sah, wie jemand mehrere mit Plastikband zusammengeschnürte Zeitungspacken aus unserem Hauseingang zerrte. Ich stutzte. Ulli packte mich am Arm: „Lass uns abhauen, bevor die Bullen kommen!“

Und so gingen wir zügig und ohne uns umzuschauen die Straße hinunter. Als wir an der Kreuzung nach links abbogen, sah ich aus den Augenwinkeln, dass unsere Straße brannte. Wahrscheinlich hatte jemand die Zeitungen angezündet. Was immer das auch sollte. Ich ging weiter. Bald hörte ich Sirenen. Als ich zwei Tagen später wieder nach Hause kam, packte ich meine Sachen und zog aus. 1984 wurde ein gutes Jahr. HARTMUT EL KURDI

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen