Die Wut aus den leeren Bäuchen

Armut hat Argentiniens Schulen zu einem Hort der Gewalt gemacht. Manche Schulleiter versuchen nun, die Kraft der kleinen Gangster ins Spielerische zu wenden – mit aktiven Pausen. Pate der erfolgreichen Pädagogik ist der Deutsche Hermann Gall

Die Aggressivität der Schüler wird durch das Vertrauen der Lehrer neutralisiert

VON MARTA PLATÍA

Die Armut in Argentinien, die bürgerliche und militärische Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten herbeigeführt haben, indem sie eine dauerhafte, systematische Korruption betrieben und die Menschen einer Politik der wirtschaftlichen Ausgrenzung aussetzten, hat das südamerikanische Land an den Rand des Abgrunds geführt. Armut ist zugleich in vielerlei Hinsicht die Wurzel von Gewalt an den Schulen Argentiniens.

Schüler, die sich prügeln, sich im Schulgebäude oder davor mit Messern und Feuerwaffen bedrohen, Mädchen, die sich wie in einem Gangsterfilm die Wangen mit Rasierklingen aufschlitzen, all das sind inzwischen Alltäglichkeiten in den Polizeinachrichten der Tageszeitungen. Damit nicht genug: Die Gewalt erreicht viele Schulen auch in Gestalt wütender und irrational handelnder Eltern, die wegen der kleinsten Maßregelung ihres Kindes durch einen Lehrer in die Schule kommen, um die Pädagogen zu beschimpfen oder sogar körperlich anzugreifen.

In dieser aufgeheizten Situation befinden sich menschliche Grundwerte auf dem Rückzug. Der Respekt vor dem Anderen, vor seinen Grundbedürfnissen, sei es ein Kind oder ein Erwachsener, gehörte in Jahren von Armut und Arbeitslosigkeit zu den ersten Opfern. Dieses Bild zeichnet sich in ganz Argentinien ab, in verschärfter Form ist es an der Peripherie der Großstädte erkennbar. Viele Schulen in Armenvierteln haben sich in regelrechte Festungen verwandelt. Eingezäunt und vergittert, gleichen manche Gebäude mehr einem Gefängnis als einer Schule. Dabei sollen die Metallstreben nicht nur Einbrecher abwehren – mit ihrer Hilfe wird genau kontrolliert, wer die Schule betritt und wer sie verlässt.

„Die Gewalt, die in einem leeren Magen entsteht, ist ein äußerst schwieriger Gegner“, urteilt Pablo Alessandrini, Lehrer an der Schule „Mutualismo Argentino“. Nach Ansicht des Pädagogen richtet der Hunger enorme Schäden in den Köpfen der Kinder an: „Entweder schlafen sie im Unterricht ein, oder sie werden ohnmächtig.“ Und es gibt noch eine dritte Möglichkeit: „Die, die etwas kräftiger sind, werden in ihrer Not aggressiv.“

In der Schule von Sargento Cabral, einem Arbeiterviertel am Rande der Millionenstadt Córdoba, versuchen die Lehrer jetzt, den herrschenden Fatalismus zu überwinden: „Seit dem Jahr 2001 wenden wir eine in Deutschland entwickelte Methode der aktiven Pausengestaltung an“, erklärt Milagros Avila Posse, die Schulleiterin. „Es geht darum, die Kinder zu beschäftigen und über die gesamte Zeit zu begleiten, nicht nur während des Unterrichts, sondern auch in den spielerischen Phasen des Schulalltags.

Auf der Grundlage einer Vereinbarung der Stadtverwaltung von Córdoba mit der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg (Baden-Württemberg) setzten sich die Lehrer mit der Methode von Hermann Gall auseinander. „Seine Idee besteht darin, dass Erziehung nicht nur in den Klassenräumen stattfindet, sondern auf dem Schulhof weitergeht. Gall ist der Auffassung, dass Spiele eine effiziente Lernform darstellen und positive Veränderungen in vielerlei Hinsicht bewirken können“, sagt Avila Posse.

Nach Ansicht des Lehrerkollegiums in Córdoba dient die „Gall-Methode“ in Deutschland dazu, „lethargische Schüler aus ihrer Isolation herauszuholen“. In Argentinien sei sie dagegen „ein probates Mittel gegen Gewalt in der Schule“. Denn wenn Schüler in gemeinschaftlichen Spielen beschäftigt würden, „nehmen Aggressivität und Kämpfe beträchtlich ab“.

Der Lehrer Alessandrini gehörte zu den Ersten, die diese Technik in ihren Sportstunden anwandten: „Da gibt es zum Beispiel eine ebenso einfache wie effektive Maßnahme: Zunächst schaue ich, welcher Schüler am meisten stört oder am gewalttätigsten ist. Der bekommt dann den Auftrag, sich um die anderen zu kümmern, die Spiele in der Pause zu verteilen. Damit gerät er in eine Position, in der er sich wichtig fühlt, als Anführer.“ Der Lehrer sieht darin „eine fast unfehlbare Methode: Seine Aggressivität wird durch das Vertrauen, das der Lehrer in ihn setzt, neutralisiert. Meistens bemühen sich diese Schüler, anderen ein Vorbild zu sein, eine Art Beschützer ihrer Klassenkameraden“.

Eine „aktive Pause“ in der Schule Mutualismo Argentino, an der 360 Schüler verteilt auf zwei Schichten teilnehmen, ist eine in Argentinien beinahe einzigartige Gemeinschaftserfahrung. Jungen und Mädchen errichten mit farbigen Holzbausteinen Häuser, Wolkenkratzer und Brücken. Schülerinnen hüpfen auf Spielfeldern, die auf die ausgetretenen Fliesen der Korridore gemalt wurden, in langen Schlangen warten andere darauf, angeseilt mit der Hilfe Alessandrinis auf Bäume und Mauern zu klettern, „wie echte Bergsteiger“. Ein anderes beliebtes Spiel ist Zielwerfen auf sandgefüllte Plastikflaschen. Als Wurfgeschosse dienen Stoffbälle, die die Eltern aus alten Strümpfen hergestellt haben, denn Gummibälle wären zu teuer. Da die Flaschen mit Zahlen beschriftet sind, können die Kinder nebenbei ihre Fähigkeiten im Rechnen testen.

Galls Methode beschränkt sich aber nicht auf die Pausen. „Wenn die Kinder in den Schulstunden überreizt sind und stören, kommt ein anderer, sehr einfacher Mechanismus zum Einsatz, der gute Resultate erbringt“, sagt Schulleiterin Avila Posse. Der Lehrer unterbreche den Unterricht und führe mit den Schülern Entspannungsübungen durch. „Zum Beispiel bittet er die Schüler, die Augen zu schließen und tief durchzuatmen. Mit etwas ruhiger Musik hat sich die Atmosphäre in der Klasse nach wenigen Minuten völlig verändert.“

Wieder eine andere Strategie kommt zur Anwendung, wenn die Schüler unaufmerksam oder schläfrig sind: Es ist ein Spiel mit einer Papierkugel, die sie sich von den Plätzen aus zuwerfen, mit der Vorgabe, dass die Kugel nie auf den Boden fallen darf. „Das macht sie wach“, erzählt Avila Posse, „und Spaß macht es ihnen auch. Eigentlich ist es eine Art Legalisierung des klassischen Streichs, andere mit Papierkügelchen oder Kreide zu bewerfen, wenn der Lehrer den Raum verlässt. Mit dem Unterschied, dass wir in diesem Fall die Unruhestifter sind.“

Die Gall-Methode wird an fünf Schulen in Córdoba angewandt, an einer Schule in Neuquén im Süden Argentiniens und an zwei Schulen in Kolumbien und Paraguay. „Ein deutsches Lehrerteam hat 2001 eine Rundreise gemacht, um uns die Techniken zu zeigen. Wir geben diese Kenntnisse jetzt an Kollegien anderer Schulen weiter, die sich für die positiven Resultate unserer Arbeit interessieren.“ Posse hält es für erwiesen, „dass die Gewalt an den beteiligten Schulen deutlich zurückgegangen ist“.

Ein anderer Aspekt, der quasi unbeabsichtigt von dieser Initiative ausging, ist die Gründung einer Elterninitiative, die sich in einem kleinen Raum an der Schule trifft, um dort die benötigten Spielgeräte herzustellen. Dafür zahlt ihnen die Regierung einen Lohn: Sie erhalten Gelder aus einem Fonds für Arbeitslose mit Familie, der unter dem Übergangspräsidenten Eduardo Duhalde nach der politischen Krise im Dezember 2001 eingerichtet wurde. Was sie verdienen, ist freilich wenig mehr als ein Placebo: 150 Pesos – 48 Euro – im Monat, durch die Hunger und soziale Konflikte gebändigt werden sollen. 1.500 Pesos wären vonnöten, um in Argentinien eine vierköpfige Familie zu ernähren. Vier Stunden kommen die Eltern jeden Tag in die Schule und übernehmen auch andere Aufgaben – sie putzen, bereiten den Mate-Tee zu und backen Brot, das viele der Kinder zu Hause nicht bekommen. Mit diesem Nebeneffekt seiner pädagogischen Methode hat Hermann Gall wahrscheinlich nicht gerechnet.

Marta Platía, 39, ist argentinische Journalistin. Sie arbeitet für die Tageszeitung Clarín