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: Kein Schlussstrich für Diktatoren – auch alte Männer wie Pinochet gehören vor Gericht

Wird uns die Frage vorgelegt, ob es sinnvoll ist, hochbetagte Verbrecher wie den früheren chilenischen Diktator Augusto Pinochet vor Gericht zu bringen, so werden wir intuitiv mit Ja antworten, sofern der Beschuldigte dem Prozess noch folgen kann. Warum? Vergeltung ist doch wegen der kurzen, noch zu erwartenden Lebensfrist ebenso ausgeschlossen wie Resozialisierung durch Strafe.

Die Forderung nach einem Gerichtsverfahren zielt auf zweierlei: Genugtuung für die Opfer und eine Bestätigung grundlegender, rechtsverbürgender Normen für die Bürgergesellschaft. Denn das Vertrauen in eine „normale“ Lebensführung und Lebensplanung wäre nachhaltig erschüttert, wenn es gerade bei Staatsverbrechen keine gerichtliche Ahndung gäbe. Darin liegt der Sinn der Generalprävention bei solchen Taten.

Die Forderung nach Genugtuung für die Opfer – oder ihre Nachkommen – drängt sich auch wegen der Traumatisierung auf, die sie erleiden, wenn eine Strafverfolgung ausbleibt. Sie bildet ein zweites Trauma nach dem ersten, das durch das Staatsverbrechen entsteht. Und offensichtlich ist die Generalprävention auch berechtigt, weil diktatorische Nachahmungstäter ansonsten in ihrem Glauben bestärkt würden, selbst ungeschoren davonzukommen. Je mehr solche Prozesse mit Verurteilungen enden, je höher wird die Schwelle, Staatsverbrechen zu begehen.

Verfahren wie das gegen Pinochet müssen strikt rechtsstaatlichen Regeln folgen und ganz auf konkrete Tatnachweise abstellen. Eine Schlussstrich-Debatte, wie sie die Nutznießer einer Diktatur gerne anzetteln, wird am wirksamsten unterbunden, wenn ein öffentlicher Prozess die Verbrechen möglichst präzise nachzeichnet. Gerade darin liegt die aufklärerische Funktion der Verhandlung vor Gericht. Und das unterscheidet sie von gut gemeinter Volkspädagogik, die immer Gefahr läuft, die fraglichen Taten zur politischen Ansichtssache zu degradieren.

Verfahren und Urteil sind wichtig. Ob der Täter die Strafe noch antreten muss, bleibt bei sehr alten Tätern zweitrangig. Genugtuung für die Opfer und die Festigung der Zivilgesellschaft sind vorrangiges Ziel jeder Heilung angesichts von Verbrechen wie denen, die Pinochet zur Last gelegt werden. Diese Rechtsauffassung fügt sich der positiven internationalen Tendenz ein, die den Menschenrechten den Platz gibt, der ihnen in Demokratien zukommt. CHRISTIAN SEMLER

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