Unser lieber Scholli

Traurig, traurig, dass Mehmet Scholl nicht unbedingt zur WM 2006 will. Aber es macht ihn noch sympathischer

„Wenn die WM ist, bin ich noch einmal anderthalb Jahre älter. Und schneller werde ich nicht mehr.“ Es war der beliebteste und begabteste Spieler des FC Bayern, Mehmet Scholl, der mit diesen wahren Worten einer ausufernden Hysterie entgegentrat.

Landauf, landab überschlugen sich Zeitungen von Bild bis FAZ mit ihren Lobeshymnen auf Scholl, die Welt fantasierte gar von einem Künstler, der, ähnlich wie Michelangelo, sein Werk auch im hohen Alter unbedingt noch zu Ende bringen müsse. Kurzum, so der Tenor: Mehmet muss zurück in die Nationalmannschaft, spätestens 2006, wenn die WM angepfiffen wird. So weit, so hysterisch.

Überraschenderweise bekundeten auch Herren Löw, Bierhoff und Klinsmann umgehend Interesse, obwohl Scholl seine Karriere in der Adler-Elf 2002 wegen andauernder Verletzungen beendet hatte. Dass es gerade mal sechs Spiele für den FC Bayern mit zweifellos überragenden Leistungen gegen zweifellos ziemlich durchschnittliche Gegner brauchte, um eine solche Euphorie auszulösen, zeigt: Die Sehnsucht nach Mehmet Scholl ist so romantisch wie berechtigt.

Wenn man spontan einen Spieler der Nationalelf nennen müsste, dem man heute beim Länderspiel gegen Japan in Yokohama mit solcher Begeisterung zuschauen wird wie einem gesunden Mehmet Scholl – wer würde einem da einfallen?

Bernd Schneider? Vor zwei Jahren bei der Weltmeisterschaft spielte der Leverkusener im deutschen Team mit Abstand den besten Fußball. Aber seitdem hat er sich diesem Rausch nie wieder hingegeben. Zuletzt bot ihn Jürgen Klinsmann als Verteidiger auf. Bastian Schweinsteiger? Kann im Prinzip alles, wird aber noch Jahre brauchen, um es adäquat umzusetzen. Benjamin Lauth? Wer ist das?

Für Geistesblitze, die auch mal ein Spiel gegen stärkere Gegner durch einen brillanten Spielzug entscheiden können, sind weder Michael Ballack noch Thorsten Frings zuständig. Da gilt das Prinzip: Irgendein Kopfball oder Abstauber geht schon rein. Kann ja auch klappen – wie zuletzt beim FC Bayern, der ohne Scholl erbärmlich einfallslos spielte und trotzdem in letzter Minute die Wintermeisterschaft rettete.

Aber reichen diese Mittel und Klinsmanns neue Jugendkultur, damit wir uns 2006 bei der WM mit der deutschen Nationalmannschaft identifizieren können, dieser 1:0-Maschine? Nein! Natürlich ist Scholl gerade mal wieder verletzt, aber er muss mit. Egal wie. Es gibt Hoffnung: Laut www.Sport1.de soll der Zaudernde bei der Aussage ertappt worden sein: „Der Jürgen hat noch einen gut bei mir.“ Da Klinsmann bekanntlich die Nationalmannschaft per Internet trainiert, wird er diesen Wink nicht übersehen. Alles wird gut. JÖRG SCHALLENBERG