„Die Türkei ist längst integriert“

INTERVIEW JÜRGEN GOTTSCHLICH

taz: Herr Yeter, morgen wird die EU entscheiden, ob sie mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufnimmt. Wie wichtig ist diese Entscheidung für Sie?

Hanefi Yeter: Sehr wichtig. Die Aufnahme von Verhandlungen ist für die weitere Entwicklung der Türkei wirklich entscheidend. Die letzten Jahre haben der Türkei bereits einen enormen Modernisierungsschub gebracht. Die demokratische Entwicklung muss stabilisiert werden. Ich glaube einfach nicht, dass diese Entwicklung so weitergeht, wenn der Druck und auch der Anreiz von Außen wegfallen. Als jemand, der fast 30 Jahre in Deutschland gelebt hat, bin ich natürlich auch persönlich betroffen. Ich möchte, dass die Türkei ein Teil Europas, ein Mitglied der EU wird. Mein Sohn macht gerade in Berlin seinen Zivildienst.

Sie kennen sowohl Deutschland als auch die Türkei gut. Verstehen Sie die Vorbehalte, die viele Menschen in Deutschland gegen einen EU-Beitritt der Türkei haben?

Ich denke, das hängt mit dem schlechten Image zusammen, das die Türkei lange hatte. Die Türkei ist jahrzehntelang schlecht regiert worden. Repression, Korruption und Misswirtschaft haben das Land fast in den Ruin getrieben. Aber während des Kalten Krieges hat Westeuropa das nicht kritisiert. Unsere Staatsschauspieler, Politiker wie Demirel, Ecevit und selbst Erbakan, haben ihre Funktion erfüllt. Mit der Wahl der AKP vor zwei Jahren hat es aber einen Bruch mit dieser hergebrachten traditionellen türkischen Politik gegeben.

Beklagt wird aber vor allem die andere Kultur, die fremde Religion.

Wissen Sie, ich bin Maler. Ich habe in Deutschland gearbeitet, seit vier Jahren arbeite ich jetzt wieder hier in Istanbul. Wenn Sie sich hier die Galerien anschauen, werden in vier von fünf europäische Künstler ausgestellt. Machen Sie das Radio an, Sie hören amerikanische oder europäische Musik. Mit dem Fernsehen ist es genauso. Die Türkei ist kulturell längst in Europa integriert. In der bildenden Kunst schaut man seit hundert Jahren fast ausschließlich nach Europa. Für meinen Geschmack kümmern sich türkische Künstler eher zu wenig um ihre Traditionen.

In Berlin sieht man aber nicht die Galerien in Istanbul, sondern die Kopftuchfrauen in Kreuzberg und Neukölln.

Ja, man sieht eben immer das, was man sehen will. Erst hat man die Gastarbeiter gesehen, dann die Türken, jetzt sieht man die Muslime. Warum werden die Menschen nicht als Individuen angesehen, sondern entweder über ihre Nationalität oder ihre Religion definiert? Ich bin Künstler. Doch auch zu meinen besten Zeiten in Deutschland war ich immer der Gastarbeiterkünstler, der Künstler der Migranten, der türkische Künstler. Das blieb selbst so, als ich Bilder über den Mauerfall und die Wiedervereinigung gemalt habe. In Europa gilt es doch zu Recht als große Errungenschaft, dass Religion eine Privatsache jedes Einzelnen ist. Da geht es einfach nicht in meinen Kopf, dass die Menschen aus der Türkei jetzt nur noch über ihre Religion definiert werden sollen.

Aber der Terror, wie beispielsweise der Mord an van Gogh in Holland, wird religiös begründet.

Man sollte nicht in eine solche Falle tappen. Religionskriege waren in der Geschichte immer die schlimmsten Kriege, Kriege ohne Kopf. Also ohne klares Interesse und klare Ziele und deshalb so grausam. Die Politik, gerade die klugen Politiker in Europa, dürfen nicht zulassen, dass die Religion zu einem Keil zwischen den Menschen wird.

Warum sind Sie vor vier Jahren aus Berlin nach Istanbul zurückgekehrt?

Ich hatte das Gefühl, als Künstler in einer Sackgasse zu sein. Berlin hat sich nach dem Mauerfall sehr geändert. Ich gelte, wie ich ja schon gesagt habe, als türkischer Künstler. Und nach dem Mauerfall hat man uns vergessen. Das Interesse richtete sich vollständig auf die jungen Künstler aus dem Osten, meine Kunst war nicht mehr gefragt. Aber auch die Türken in Deutschland haben sich nicht für Kunst interessiert und Leute wie mich nicht unterstützt. Ich hab überlegt, in die USA zu gehen, aber mit 50 Jahren war für mich ein Neuanfang in der Türkei dann doch leichter.

Außerdem ist die Kunstszene in Istanbul in den letzten Jahren immer interessanter geworden. Hier passiert was, alles ist in Bewegung, ständig kommen junge Leute nach. Vor ein paar Tagen hab ich zufällig eine Gruppe Kunststudenten aus Münster getroffen. Die waren total begeistert von der Dynamik und der Offenheit hier. In dieser Woche wird das erste große Museum für Moderne Kunst in Istanbul eröffnet, ein weiteres ist bereits in der Diskussion. Solche Veränderungen gehen hier zurzeit viel schneller, als es in Deutschland jemals möglich wäre. Die Atmosphäre hier ist produktiver, und es macht mehr Spaß.

Die Türkei besteht aber nicht nur aus Istanbul?

Ich weiß natürlich, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen der Ost- und der Westtürkei, zwischen Stadt und Land. Das wird noch lange so sein. Das ist aber nicht nur in der Türkei so, sondern in vielen Ländern, die jetzt EU-Mitglied geworden sind. Selbst in Ländern wie Italien ist das Nord-Süd-Gefälle bis heute nicht überwunden.

Was passiert, wenn sich die EU gegen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei entscheidet?

Das wäre eine große Enttäuschung für alle hier. Die positive Atmosphäre, die Hoffnung, die die Leute in den letzten Jahren beflügelt hat, alles bekäme einen großen Dämpfer. Auch für die Türken in Deutschland wäre es eine Katastrophe. Diejenigen würden sich bestätigt fühlen, die sowieso schon begonnen haben sich abzukapseln. Der Rückzug auf die eigene Community würde sich verstärken, und gerade bei denen, die sich längst integriert haben, wäre die Enttäuschung am größten.

Was halten Sie von dem Argument, eine Ablehnung von Beitrittsverhandlungen würde die völlige Abkehr der Türkei von Europa nach sich ziehen?

Ich halte nichts von Katastrophenszenarien. Aber ich bin auch fest davon überzeugt, dass die Staatschefs der EU Verhandlungen mit der Türkei zustimmen werden. Warum sollten sie eine Türkei, die sich gerade so gut entwickelt, ablehnen? Die Türkei ist mit den Ländern der EU bereits stark vernetzt. Die Türkei ist ein wichtiger Markt für Europa, und er wird immer wichtiger werden. Die Türkei ist Mitglied der Nato und würde dann Mitglied der europäischen Verteidigung. Eine politisch stabile Türkei an der Grenze zur nahöstlichen Krisenregion ist für Europa enorm wichtig. Also: Die EU wird von einer Aufnahme der Türkei profitieren, und ich denke, dass die Politiker das wissen. Warum sollten sie die Türkei in die Arme der USA treiben?