Tony Blairs stalinistische Versuchung

Wenn der britische Premierminister seine scharfen Antiterrorgesetze per Parlamentsvotum halten will, obwohl die Obersten Richter Großbritanniens sie für rechtswidrig erklärt haben, riskiert er eine Verfassungskrise kurz vor den nächsten Wahlen

VON RALF SOTSCHECK

Noch nie stand ein britischer Innenminister an seinem ersten Arbeitstag vor einem solchen Dilemma. Einen Tag, nachdem Charles Clarke am Mittwoch das Amt des zurückgetretenen David Blunkett übernommen hatte, urteilte das höchste britische Gericht am Donnerstag, dass die unbegrenzte Internierung von Ausländern ohne Anklage eine schwere Verletzung der Menschenrechte sei. Das Urteil war ein schwerer Schlag für die rigorose Antiterrorismuspolitik der Labour-Regierung, auch wenn nach britischem Recht Entscheidungen des Unterhauses Vorrang vor höchstrichterlichen Urteilen haben.

Clarke sagte, er werde das Urteil gründlich studieren, bevor er darauf reagiert. Premierminister Tony Blair deutete jedoch an, dass er das Urteil ignorieren und das bestehende Gesetz vom Parlament bestätigen lassen werde. Die jedes Jahr erforderliche Erneuerung des Antiterrorgesetzes, das im Eilverfahren nach den Anschlägen vom 11. September 2001 verabschiedet wurde, steht im März an. Das ist voraussichtlich mitten im Wahlkampf.

Ignoriert die Regierung das Urteil der Lordrichter, wandern noch mehr traditionelle Labour-Wähler zu den Liberalen Demokraten ab. Reformiert sie hingegen das umstrittene Gesetz, profitieren davon die Konservativen mit ihrer populistischen Ankündigung, die Menschenrechtskonvention endgültig zu kippen.

Die scharfe Kritik der Lordrichter traf die Regierung unvorbereitet. Lord Hoffmann sagte, es war eine der wichtigsten Entscheidungen, die das Gericht in den vergangenen 50 Jahren treffen musste. Sie fiel mit 8:1 Stimmen überraschend einmütig aus. Wegen der Bedeutung des Falles waren daran neun Lordrichter statt der üblichen fünf beteiligt. Einer von ihnen, Lord Scott, sagte: „Ein Regime, unter dem Verdächtige aufgrund des Wortes eines Innenministers unbegrenzt festgehalten werden können, ist Stoff für Albträume, die man mit Frankreich vor und während der Revolution, mit der Sowjetunion in der Stalinära und nun mit dem Vereinigten Königreich verbindet.“ Lord Hoffmann fügte hinzu: „Das stellt die Existenz eine der ältesten Freiheiten in Frage, auf die das Land bisher so stolz war: den Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Internierung.“

Um das Gesetz durchzusetzen, hatte die britische Regierung Teile der Europäischen Menschenrechtskonvention außer Kraft setzen müssen. Sie begründete das mit der Gefahr für das Überleben der Nation. Richterin Lady Hale hält das für unsinnig. „Es stand auf der Kippe, ob wir Hitler überleben, aber wir werden zweifellos al-Qaida überleben“, sagte sie. „Die Exekutive hat nicht zu entscheiden, wer wie lange eingesperrt werden darf, schon gar nicht unbegrenzt. Das dürfen nur die Gerichte.“ Sie fragte, wie wohl die Öffentlichkeit auf ein Gesetz reagieren würde, das nicht nur die Internierung von Ausländern, sondern auch von Schwarzen, Behinderten, Frauen oder Schwulen gestatte.

Unter dem Sondergesetz sind bisher 16 Muslime, die des „internationalen Terrorismus“ verdächtig sind, festgenommen worden. 12 davon sind noch immer in Haft. Fast alle sind Flüchtlinge aus Nordafrika. Wenn sie wollten, könnten sie in ihre Heimatländer zurückkehren, doch für die meisten wäre das lebensgefährlich. Auch in ein Drittland können sie kaum ausreisen: Wer nimmt schon einen solchen Asylbewerber auf?

Die britische Presse reagierte unterschiedlich. Die liberalen Zeitungen Guardian und Independent begrüßen es, die Times ist unentschieden, der konservative Daily Telegraph gibt der „Europäisierung unserer Gesetze“ die Schuld: Die lästige Menschenrechtskonvention hätte gar nicht ratifiziert werden dürfen. Und die Sun bezeichnete die „Perückenträger“ als „Blindgänger“.