Schweigen in Sichuan

WIEDERAUFBAU Die Regierung in Peking will sich feiern lassen. Schwierigkeiten beim Wiederaufbau werden ausgeblendet, Fragen von Überlebenden nicht geduldet

Provinz: Sichuan im Südwesten Chinas hat 87 Millionen Einwohner, in der Hauptstadt Chengdu leben 10,5 Millionen von ihnen. Auf einem Quadratkilometer leben 179 Einwohner.

■ Erdbebengefahr: Sichuan liegt am Rand des Gebiets, wo sich die indische Erdplatte gegen die eurasische Erdplatte schiebt.

■ Landwirtschaft: Die Provinz ist vorwiegend agrarisch geprägt, Hauptanbauprodukt ist Reis. taz

AUS CHENGDU JUTTA LIETSCH

Als am 12. Mai 2008 um 14.28 Uhr die Erde von Sichuan bebte, saß der Maler Zhang Zhaofang mit 42 Studenten in einem Bus, unterwegs, um in freier Natur das Spiel des Lichtes, Pflanzen und Tiere zu beobachten. Nur noch wenige Kilometer blieben bis zu ihrem Ziel in den Bergen bei Wenchuan.

Da brach die Hölle los. Der Berg spaltete sich, ein Wagen wenige Meter vor ihnen stürzte in die Tiefe. Als Zhang sich umdrehte, sah er, dass auch die Autos hinter ihnen verschwunden waren. Dass er und die 17- bis 18-jährigen Studenten aus der Stadt Deyang die Katastrophe überlebten, „ist ein Wunder“, sagt der 46-jährige Künstler. „Einzig das Stück Straße unter unserem Bus war nicht abgerutscht!“ Fassungslos beobachtete die Gruppe, wie ein Abhang mit regennasser Erde ein ganzes Dorf unter sich begrub. Siebzehn Tage steckten sie fest, konnten nicht vor und nicht zurück. So lange dauerte es, bis die Armee einen Weg frei schaufelte. „Wir sind damals zum zweiten Mal geboren worden“, sagt Zhang, ein freundlicher Mann mit kurz geschorenem Haar und leichten Schatten unter den Augen.

Vielen erging es schlimmer: 87.000 Menschen kamen bei dem Beben der Stärke acht ums Leben, 374.000 wurden verletzt. Über 5 Millionen Menschen haben vor einem Jahr ihr Dach über dem Kopf verloren. Noch immer leben Millionen in Behelfsunterkünften, Containersiedlungen und Zelten. Die Fernsehbilder von der Zerstörung gingen um die Welt und lösten in China und im Ausland eine beispiellose Welle der Hilfsbereitschaft aus – und Respekt vorm dem schnellen Einsatz der Rettungsmannschaften unter schwierigsten Bedingungen.

Zwölf Monate später ist die Zeit der Trauer vorbei, so jedenfalls wollen es Partei und Regierung. Der erste Jahrestag, so lautet die Devise, soll im Zeichen des Aufbruchs begangen werden. „Mögen die Schwierigkeiten noch so groß sein, das heldenhafte chinesische Volk lässt sich nicht unterkriegen“, verkünden allerorten Transparente an Straßenrändern und öffentlichen Gebäuden. Tatsächlich ist in Sichuan in den vergangenen Monaten viel geschehen. In der Stadt Dujiangyan, eine Autostunde von Sichuans Kapitale Chengdu entfernt, stehen zwar noch immer in ganzen Wohnvierteln die Häuser mit dicken Rissen in den Wänden leer, am Stadtrand aber säumen neue Fabrikhallen die breiten Straßen der Industriegebiete. Auch ein großes Krankenhaus entsteht dort. „Wir erfüllen hier höchste Standards“, versichert Bauleiter Lu Bin, der mit seinen Arbeitern aus Schanghai angereist ist. „Erdbebensicherheit kommt an erster Stelle“, sagt er. Neben seinem Projekt entstehen in der Siedlung „Glückliche Heimat“ Hochhausapartments – mit Grünflächen und kleinen Teichen. Die Wohnungen sollen im nächsten Jahr bezugsfertig sein.

Die Partei in Peking will mit den Aufbauarbeiten eine Erfolgsstory schreiben: Sie übt Druck auf die Provinz aus, damit ein Großteil der Projekte nicht, wie ursprünglich geplant, innerhalb von drei Jahren, sondern schon in zwei Jahren fertiggestellt wird. Und zwar „ohne Qualitätseinbußen!“, so der Befehl. Staats- und Parteichef Hu Jintao will zum Jahrestag persönlich nach Sichuan fahren, Premierminister Wen Jiabao, der vor einem Jahr die Rettungsarbeiten befehligte und sich die Sympathien vieler Bürger eroberte, war schon sechsmal da. Gestern legte die Partei neue Vorschriften zum Katastrophenschutz vor. Neue Bauvorschriften gibt es, und die Lokalbehörden sollen Notfallpläne entwerfen.

Nichts soll das Bild von einer besorgten und engagierten Führung trüben. Die Lokalbehörden versuchen deshalb, die Schwierigkeiten hinter den Aufbaurekorden zu verbergen. Und Probleme tun sich viele auf: Berichte über Korruption und über Unterschlagung bei den riesigen Investitionsprojekten schwirren durch Zeltstädte und Ruinen. Der Zorn der Eltern, deren Kinder unter schlecht gebauten Schulen begraben wurden, schwelt noch immer, und es gibt Ärger über ihre Entschädigungen. Denn nicht alle erhalten die gleiche Summe. Während manche Eltern 60.000 Yuan (rund 6.440 Euro) von den Behörden erhielten, stiftete eine große Stahlfirma für ihre Angestellten knapp 43.000 Euro zusätzlich. „So etwas schafft natürlich große Probleme“, gesteht ein Funktionär. „Und wir wissen nicht, wie wir sie lösen sollen.“

Lange hatte die Regierung die Zahl der toten Kinder verschwiegen. Nachdem der prominente Pekinger Künstler Ai Weiwei und zahlreiche Freunde und Mitstreiter begannen, auf eigene Faust die Namen der Toten und die Umstände ihres Todes zu erforschen und auf seinem Blog zu veröffentlichen, publizierte Peking jetzt eine Statistik, ohne weitere Einzelheiten zu nennen: 5.335 Schüler seien gestorben oder werden noch vermisst, insgesamt wurden 11.687 Schulgebäude zerstört.

Wie vor einem Jahr, als sich Chinas Journalisten weigerten, dem Befehl der Propagandabehörde des Zentralkomitees zu folgen und nur die Berichte der offiziellen Nachrichtenagentur Xinhua über das Erdbeben zu berücksichtigen, bewiesen viele Medien auch jetzt Zivilcourage und berichteten über den mutigen Ai Weiwei oder die seelischen Nöte von Funktionären, die den Druck nicht mehr aushielten und Selbstmord begingen.

Vor Ort versuchen die Behörden aber, Journalisten daran zu hindern, mit erzürnten Eltern zu sprechen. Mehrere ausländische Reporter, auch von der ARD, wurden bedroht, einige niedergeschlagen und stundenlang von der Polizei oder ihren Dunkelmännern festgesetzt. „Wir können es nicht zulassen, dass die Presse die Leute aufwiegelt und die Harmonie stört“, sagt ein Beamter. „99 Prozent der Eltern sind zufrieden mit der Hilfe. Die anderen sind nicht richtig im Kopf.“ Mütter und Väter, die nicht aufhören wollen, nach den für die Schulkatastrophe Verantwortlichen zu fragen, werden von Funktionären stark eingeschüchtert. Sie drohen, die Entschädigung zu streichen, falls sie Journalisten über das Schicksal ihrer Kinder erzählen. Andere werden mit Geld zum Schweigen gebracht.

Eltern, deren Kinder in Schulen starben und die nicht aufhören, Fragen zu stellen, werden eingeschüchtert

Niemand, außer der Natur, trägt die Schuld an der Zerstörung der vielen Schulen – so die offizielle Linie in Peking. Bei einem so starken Beben sei es nur natürlich, wenn Gebäude in sich zusammenfallen wie Kartenhäuser. Untersuchungsergebnisse heimischer und internationaler Fachleute, die das Fehlen von Stahlstreben und ein schlechte Zementqualität in den Überresten vieler Schulgebäude feststellten, seien „nicht bewiesen“, heißt es von offizieller Seite. Abschotten ist besser als Aufklärung, lautet die Devise auch in der Stadt Hanwang. Die Überreste der Schulen auf dem Gelände der Dongfang-Turbinenwerke sind von Mauern umgeben, Glassplitter obenauf. 370 Kinder und 17 Lehrer verloren hier ihr Leben, insgesamt starben etwa 5.000 der 60.000 Bewohner dieser Werkssiedlung. Ein einsamer Strauß mit gelben und weißen Chrysanthemen liegt vor dem Eisentor.

Die Siedlung ist eine Geisterstadt, hier wohnt niemand mehr. Die grauen Wohnhäuser und Bürogebäude sind rissig, die Fensterlöcher leer. Erst auf den zweiten Blick sind vereinzelte Räucherstäbchen und Kerzen zu erkennen, die Angehörige der Toten hinterlassen haben.

Die Siedlung soll irgendwann ein riesiges Erdbeben-Freilichtmuseum werden. Ein paar Meter weiter, neben dem Turm mit der Uhr, die um 14.28 Uhr stehen blieb, bietet schon heute ein Kiosk DVDs mit Erdbebenvideos und andere Souvenirs an. Ein Lautsprecher überträgt Schreie und Kommandos von Rettern.

45 Kilometer vom Erdbeben-Freilichtmuseum in Hanwang entfernt sitzt der Künstler Zhang mit ein paar Freunden im Kaffeehaus von Deyang. Er ist stolz und zugleich tief berührt, dass seine Studenten den Schrecken jener Tage in den Bergen so gut verkraftet haben und alle weiterstudieren. „Sie sind reifer geworden. Sie passen aufeinander auf, sie sorgen füreinander“, sagte er. Bald wird er mit einer neuen Studentengruppe in die Berge fahren, zum ersten Mal, seit vor einem Jahr die Erde von Sichuan bebte.