Inszenierte Zufälle

Mitten auf dem Fischmarkt, mitten im Paris der Fünfzigerjahre: Die Ausstellung „La vie – en passant“ zeigt einen Querschnitt durch das Werk des französischen Fotografen Willy Ronis

Er beobachtet Menschen im Alltag, an Festtagen, bei der Arbeit, in der Freizeit

VON SANDRA SCHNEIDER

Die Fotografien von Willy Ronis erscheinen wie Schnappschüsse, direkt aus dem Leben gegriffen, voller rasanter Dynamik, manchmal sogar ein bisschen verwirrend wie etwa sein 1994 in Palermo entstandenes Foto „Der Fischmarkt“.

Kontrastreich zeichnet die große Tiefenschärfe in diesem Bild alle Details nach. Von den Strukturen der Pflastersteine des Marktplatzes über die einzelnen Falten in der Kleidung der abgebildeten Personen bis zu den starren Fischaugen in den Kisten am unteren Bildrand oder die darüber hängende hell erleuchtete Glühbirne scheint alles gleich bedeutungsvoll aufgeladen zu sein.

So verwundert es nicht, dass der Betrachter erst einmal nach Orientierungspunkten sucht. Willy Ronis macht hier aber nichts anderes, als die Geschäftigkeit und den Trubel eines Marktes wiederzugeben. Er geht sogar noch einen Schritt weiter. Er inszeniert das Geschehen, indem er sich bei der Aufnahme direkt hinter einen Fischstand stellt. Der Betrachter hat plötzlich das Gefühl, selbst hinter dem Fischstand zu stehen und die ältere Frau, die in Gedanken versunken ihre schwere Einkaufstüte vor sich herträgt, zu beobachten.

Willy Ronis, 1910 in Paris geboren, zählt zu den weltweit renommiertesten, mit zahlreichen Preisen und staatlichen Anerkennungen ausgezeichneten Fotografen. Doch in Deutschland wird der inzwischen 94 Jahre alte Fotograf erstmals in einer umfangreichen Retrospektive und einer deutschsprachigen Monografie gewürdigt.

Zurzeit ist die Ausstellung „Das Leben – im Vorbeigehen“ im Willy-Brandt-Haus zu sehen. Der Querschnitt durch sein Werk konzentriert sich auf seine Schwarz-Weiß-Fotografie. Seine Farbfotografie, etwa wie für die Modezeitschrift Vogue, bleibt unberücksichtigt.

Seine Fotografien weisen eine dynamisierte Wahrnehmung auf, wie sie in den Dreißigerjahren in der Fotografie des Neuen Sehens vorherrschte. Sie wollte die Fotografie von den Impressionen der „Kunstfotografie“ befreien. Irritierende Perspektiven sollten gewohnte Wahrnehmungsweisen aufbrechen. Auch Willy Ronis lädt den Betrachter ein, bewusst zu sehen, indem er das Gewohnte perspektivisch immer wieder neu verhandelt. Der Fischmarkt in Palermo wird auf seiner Fotografie nicht von außen, sondern von innen, von seiner dynamischen Struktur her wahrgenommen. Auch beim Anblick seines Bildes „Les Halles“ von 1938 bekommt der Betrachter das Gefühl, sich unmittelbar in den Markthallen von Paris wiederzufinden.

Für einen kurzen Augenblick scheint das Bild wie auf einer Filmleinwand angehalten worden zu sein. Der soeben einem Mann zugeworfene Blumenkohl ist gleichsam in der Luft stehen geblieben, während die werfende Marktfrau im Vordergrund ihren Arm weit nach vorn ausgestreckt hält.

Für einen Augenblick scheint das Bild wie auf einer Leinwand angehalten zu sein

Ronis’ Fotografie erinnert an den Altmeister der modernen Fotografie, an Henri Cartier-Bresson, den Ronis in den Dreißigerjahren in der politischen Vereinigung revolutionärer Schriftsteller und Künstler – einer Unterorganisation der Parti Communiste Français – kennen lernte. Henri Cartier-Bresson ist berühmt für den alles entscheidenden Moment in seinen Bildern. Willy Ronis setzt noch bewusster auf den Zufall, erwartet sogar dessen Hilfe. Bevor er im entscheidenden Moment den Auslöser seiner Kamera betätigt, hat er schon mit äußerster Sorgfalt den passenden Bildausschnitt gewählt.

Das entsprechende Motiv braucht dann nur noch in ihn hineinzulaufen, wie in seinem 1947 in Paris entstandenem Bild „Place Vendôme“. In dem engen Bildausschnitt macht eine Frau einen großen Schritt über eine Pfütze, in der sich die Säule der Titel gebenden Place Vendôme spiegelt. Die Unschärfe der Beine gibt dabei den Impuls der Bewegung wider.

Während die Bewegungsunschärfe als Ausdruck urbaner Hektik dient, arbeitet Willy Ronis mit den Schärfeebenen auch Momente der Stille heraus, etwa in seinem wildromantischen Bild „Die Verliebten von der Bastille“ von 1957. Während sich der Vordergrund noch klar abzeichnet, verschwimmt der Hintergrund zunehmend. Der Betrachter wird eingeladen, voyeuristisch das Paar zu beobachten oder sich ebenfalls auf den Balkon zu stellen und den Blick über die Dächer von Paris in einer diffusen Lichtstimmung schweifen zu lassen bis zum Eiffelturm, dessen Konturen sich am Horizont abbilden. Es zählt nur das Hier und Jetzt, während der Alltag unter einem bleibt.

Ronis’ Bilder haben trotz ihrer präzisen Bildgestaltung eine verspielte Leichtigkeit, die den Betrachter immer wieder ins Staunen versetzt. Er beobachtet die Menschen zu jeder Gelegenheit, ob nun in ihrem Alltag oder an Festtagen, während der Arbeit oder in ihrer Freizeit – oder bei politischen Aktivitäten. Wer seine Bilder betrachtet, vergisst Raum und Zeit und träumt sich in das Paris der Fünfzigerjahre. Doch es ist ein Paris der Nebenschauplätze, fernab der großen Touristenattraktionen.

Bis 31. Januar, Di.–So. 12–18 Uhr, Willy-Brandt-Haus, Stresemannstr. 28, Kreuzberg. Katalag, 112 Seiten, Prestel Verlag, 49,95 €