Der stets die anderen alt aussehen lässt

Sein neuester Coup: Mit dem Rückzug aus der Anderen Bibliothek bleibt Hans Magnus Enzensberger sich selbst treu

Was hat er denn nun schon wieder vor? Das fragt sich gerade die halbe Intellektuellenwelt in Deutschland, und man muss zunächst einen Schritt zurücktreten, um festzustellen, was für eine Leistung das mal wieder von Hans Magnus Enzensberger ist.

Der Mann ist 75 Jahre alt. Gerade hat er angekündigt, die von ihm betreute Buchreihe Andere Bibliothek einzustellen. Und alle Welt – Feuilletons, Verlage, Fans, Verächter – wittern sofort einen Schachzug. Keiner fragt sich, ob er sich nicht allmählich zur Ruhe setzen will. Mit Enzensberger im Blick braucht man gewiss kein Methusalemkomplott gegen den vermeintlichen Jugendwahn in unserer Gesellschaft anzuzetteln. Eher müsste man über eine Heraufsetzung des Rentenalters nachdenken. Selbst im achten Lebensjahrzehnt schafft er es stets, die anderen alt aussehen zu lassen – die Autoren der Anderen Bibliothek beispielsweise, deren unterschriebene Verträge er von heute auf morgen für null und nichtig erklärt. Er selbst kommt aber immer strahlend aus den Wenden, Kehren und Haken heraus, die seine Biografie schlägt – frisch wie ein angebrochener Frühlingsmorgen.

Bei Licht besehen ist sich Enzensberger sowieso selbst treu geblieben mit seinem Rückzug. Die intellektuelle Geschichte der Bundesrepublik ist übersät mit Projekten, die der Lyriker, Essayist, Librettist, Romanautor, Verleger, Publizist (you name it) angestoßen und wieder fallen gelassen hat – vom Kursbuch, dem „Museum der modernen Poesie“, Transatlantik bis eben hin zur Anderen Bibliothek. Mit der Sache, die er gerade betreibt, hat sich Enzensberger nie selbst verwechselt. Er hat sie mit vollem Einsatz vorangetrieben, entwickelt, gehegt und gepflegt – solange es ihm sinnvoll erschien. Dann hat er eben etwas anderes gemacht. Enzensberger vertritt die hierzulande unterbesetzte Position des, was die Produktionsmittel angeht, unsentimentalen Intellektuellen; stets greift er an, nie denkt er hinter, lieber gründet er etwas Neues, als etwas Bestehendes zu verteidigen. Er ist schon der Verantwortungslosigkeit bezichtigt worden; ein Vorwurf, der allerdings an ihm abperlt – schließlich inszeniert er sich selbst gern als Luftikus, als „fliegenden Robert“. Ihm Wohlgesinnte sprechen lieber von Geschmeidigkeit.

Seltsam allerdings, dass sich in seinem Denken zuletzt eher wertkonservative Züge zeigt. Sein letzter großer Erfolg, die Inszenierung der Alexander-von-Humboldt-Wiederentdeckungsfeierlichkeiten im Sommer, hatte unnötige bildungshuberische Untertöne. Und ganz und gar nicht elegant waren seine Einlassungen in Sachen Rechtschreibreform; statt mit dem Florett zuzustechen, hat er mit dem Holzhammer zugehackt. Ist es so etwas wie altersbedingte Halsstarrigkeit, die man da auszumachen scheint? Wirklich überraschen kann er einen jedenfalls mit neuen oder fallen gelassenen Projekten nicht mehr. Aber ein überzeugendes inhaltliches Update seiner Meinungen und Überzeugungen könnte das allmählich.

DIRK KNIPPHALS