SONNIGE PLÄTZE: Gesprächsattacke
Die Sonne lockte. Also raus, in Ruhe Zeitung lesen im Café. Aber die sonnensüchtigen Kreuzberger hatten bereits alles in Beschlag genommen. Nein, ein Stuhl war noch frei. Ich fragte den Mann, ob der Platz zu haben sei. Ja, aber er sei Raucher, ob mich das störe. Nein, ich fand das sogar erfreulich. Ein Widerständler in der rauchfreien Kiezzone.
Kaum hatte ich mich gesetzt, quälte ein Straßenmusikant ganz fürchterlich sein Instrument. Mein Tischnachbar fauchte: „Hau ab. Das kannste in Istanbul machen. Nicht hier. Istanbul ist da drüben.“ Dabei zeigte er in eine Richtung, in der Istanbul bestimmt nicht lag. Er telefonierte: „Rotkäppchen halbtrocken. Nicht trocken. Ja, für 3,99. Und ab die Lotti.“
Noch versuchte ich krampfhaft, mich in die Zeitung zu vertiefen, aber ich hatte den Kampf bereits verloren, denn mein Gegenüber überraschte mich mit der Frage: „Sind Sie heterosexuell?“ Ich sah auf. Damit war der Damm gebrochen. Sturzbachartig schlugen die Wellen über mich zusammen. „Ham Se was gegen Schwuletten? Ich bin eine. Der dicke Schlitten da gehört meinem Arzt. Auch schwul.“ Er zeigte auf einen nagelneuen Mercedes. „Bei dem war ich grad. Ein Arschloch. Hab ihm mal das Leben gerettet. Wollte mir 40.000 Euro geben, aber ich hab ihm gesagt, behalte dein Scheißgeld. Nützt ihm sowieso nichts. Der macht’s nicht mehr lang. Ich arbeite ja ehrenamtlich im Krankenhaus. Was ich da jeden Tag für ein Elend sehe!“ Er nahm die Sonnenbrille ab, und Rotz und Wasser liefen ihm übers Gesicht. „Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Grauenhaft.“
Ich nutzte einen Moment der Unachtsamkeit aus und machte mich davon. Er hatte seinen doppelten Absolut verschüttet und sah nach der Kellnerin, um ihr zu sagen, ein Windstoß hätte das Schnapsglas umgekippt. „Warten Sie, Sie müssen mein Zeuge sein“, rief er mir hinterher.
KLAUS BITTERMANN
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