Links und praktisch

Günter Gaus hat eine kluge Autobiografie geschrieben. Zudem ist ihm das bislang beste Buch über seine Generation gelungen

VON JÜRGEN BUSCHE

Als Günter Gaus in Braunschweig Abitur machte, 1949, erschien bei Rowohlt in Hamburg Sartres Stück „Die schmutzigen Hände“. Es endet mit der verzweifelten Einsicht eines in der Politik gescheiterten jungen Intellektuellen: „nicht verwendungsfähig“.

Gaus, der wenig später eine imponierende Karriere als Journalist beginnen sollte, bemerkt dagegen in seinen Erinnerungen, er habe in seinem Berufsleben zumeist Glück gehabt. Es war verdientes Glück, wie man sich bei der jederzeit angenehmen Lektüre dieser Erinnerungen überzeugen kann. Der junge Mann wurde – auch als er nicht mehr ganz so jung war – stets als brauchbar empfunden. Von fast allen.

Auch Helmut Kohl fand den Gleichaltrigen verwendungsfähig. Gaus bemühte sich Mitte der 60er-Jahre auf Bitten der SPD um die Unterstützung des schon mächtigen CDU-Fraktionsvorsitzenden von Rheinland-Pfalz, als er für den Posten eines Programmdirektors beim Südwestfunk kandidierte. Er bekam den Job und musste zur Strafe an den Karnevalssitzungen „Mainz, wie es singt und lacht“ teilnehmen. Die Beziehungen zu Kohl blieben jedoch gut. Es muss offen bleiben, wer mehr davon gehabt hat. Beide werden aneinander die Brauchbarkeit geschätzt haben. Gaus nennt das den Sinn fürs Praktische.

Der gefiel auch Rudolf Augstein, der den blitzgescheiten Kerl zweimal zum Spiegel holte, das zweite Mal als Chefredakteur. Und gleichermaßen beeindruckt waren auch die Sozialdemokraten. Sie brachten schließlich den unerklärten Parteigänger vom Journalismus ab und machten ihn zum Staatssekretär, zum „Ständigen Vertreter“ der Bundesrepublik in der DDR. Doch davon berichten seine „Erinnerungen“ leider nicht mehr. Gaus starb im Mai 2004 an Krebs, bevor er sie zu Ende schreiben konnte.

Der Autor hatte es in der alten Bundesrepublik mit mehr Widersprüchen zu tun, als der Titel seines Buches es wahrscheinlich andeuten will. Aber Gaus ist intelligent genug, manche, die als bedenklich empfunden werden könnten, durch entwaffnende Wendungen selbst zu entschärfen. So war er früh ein Mann der SPD, auch wenn er kein Parteibuch hatte. Er selbst bemerkt, manch einer mit Parteibuch sei unabhängiger als andere, die keiner Partei angehören. Das ist eine vertrackte Aussage, aber wenn man sie aufgelöst hat, hat man dem Autor schon verziehen. Indes, warum muss der Chefredakteur des Spiegels an der Schlussredaktion der Regierungserklärung eines sozialdemokratischen Bundeskanzlers mitwirken? Schließlich soll das berühmte Nachrichtenmagazin über sie hernach kritisch berichten. Diese Frage zu erörtern bleibt von Interesse.

Gaus bekam seine Schwierigkeiten im Spiegel. Was er dazu sagt, klingt sympathisch und klug. Wenn man bisher stets regierungskritisch war, da es nur CDU-Kanzler gab, müsse man das Regierungskritische nicht gegenüber einem SPD-Kanzler weiterführen, zumal der die Politik betreibe, für die man eingetreten war, als die noch von den Oppositionsbänken her gefordert wurde. Das ist sehr richtig und sehr praktisch gedacht.

Man versteht, weshalb er sich über Jahre hinweg mit Kohl gut verstand. Beide waren mehr an Personen interessiert als an Ideen. Der Politiker organisierte so sein programmatisches Erscheinungsbild. Der Journalist wurde mit seinen Fernsehinterviews „Zur Person“ und „Zu Protokoll“ eine der angesehensten Figuren der deutschen Fernsehgeschichte. Beide waren provinzielle Kleinbürgerkinder in ihrer herrlichsten Ausprägung, beide kultivierten dabei einen besonderen Zug zu Höherem: Bei Kohl war es, wie Gaus den Leser spöttisch wahrnehmen lässt, die Neigung, immerzu, auch bei vertrauten Gesprächen, Barockmusik zu hören. Bei Gaus war es der Stolz, Reiter auf wirklichen Pferden zu sein.

Beide haben, ausweislich ihrer Autobiografien, keine wesentlichen Anregungen von ihren akademischen Lehrern oder sonstigen Geistesgrößen erfahren. Gaus begegnet auch dem Stirnrunzeln, das sich auf solchen Befund hin beim Leser einstellen könnte, mit Charme, wenn er an seinen älteren Kollegen die Fähigkeit rühmt, bei professionellen Gesprächen ins Philosophische, Historische, kurz: ins Unpraktische abzugleiten. Er rühmt es ehrlich, aber seine Sache ist das nicht. Beide, Kohl wie Gaus, haben sich, wenn sie zusammenhockten, mitunter heftig gestritten. Worüber eigentlich?

Gaus nennt sich mehrfach einen Mann links von der Mitte, Kohl war für ihn gewiss ein Mann rechts von der Mitte. Aber für den heranwachsenden Protestanten aus Norddeutschland war der Schock beim Untergang des Dritten Reiches größer als für den südwestdeutschen Katholiken. Gaus bekennt, lange geweint zu haben, als er aus dem Radio vom Tod Hitlers erfuhr. Damit war er nicht der Einzige unter den linken und linksliberalen Publizisten seiner Alters.

Sein „Bildungsroman“ führte ihn dann über Bergen-Belsen und Auschwitz eine Riesenstrecke zu Desillusionierung und Neuorientierung. Die gewonnenen Einsichten, das Bewusstsein von Verantwortung, von Freiheit und ihrer Bedrohtheit verließ ihn kaum einmal. Die Liebe zu Strukturen, in denen der Sinn fürs Praktische triumphieren kann, erwies ihn als Konservativen, der Eifer, mit dem er seine Prägung durch seinen „Bildungsroman“ präsent hielt, machte ihn zum Linken, was letztlich entscheidend war.

Noch nie hat man ein besseres, ein schöneres Buch über die um 1930 herum Geborenen gelesen, über ihr Glück und darüber, wie sie in die Bundesrepublik fanden. Über ihre Fehler kann man ein andermal reden.

Günter Gaus: „Widersprüche. Erinnerungen eines linken Konservativen“. 400 Seiten, Propyläen Verlag, Berlin 2004, 19,90 Euro