Fasten unterm Weihnachtsbaum

Das Christfest feiern vier Generationen der syrisch-orthodoxen Familie Kilic: Statt Gans gibt es Zwiebelsuppe und um sieben Uhr in der Frühe geht es in die Kirche

bremen/delmenhorst taz ■ Das kleine Haus in der Delmenhorster Tannenbergstraße fällt auf. Lichterketten durchziehen den Garten, in den Fenstern grüßen Sternschnuppen und Rentierschlitten. Im Inneren des Hauses dominieren religiöse Symbole. Den Serviettenhalter auf dem Ecktisch ziert ein rotes Kreuz mit der Aufschrift Jerusalem. Über dem Sofa hängt ein knallfarbener Jesus, wenn man einen Schalter drückt, blinken im Hintergrund Leuchtdioden. Neben dem Wandschrank steht eine halbmeterhohe Porzellanmadonna, an den Wänden hängen Bilder von Heiligen neben Fotos von Priestern und Patriarchen. Auch ein wohl geschmückter Weihnachtsbaum fehlt nicht.

Auf der Eckcouch im Wohnzimmer haben drei Generationen Platz genommen. Drei Generationen der Familie Kilic. Die Großeltern Simon (43) und Verde (42), der älteste Sohn Numan (26) und seine Frau Fehime (25), die Enkelkinder Jabil (4) und Lewi (1 ) und die Schwiegertochter Deniz (23) mit der Enkeltochter Lea (14 Monate). Nur die Urgroßeltern fehlen an diesem 15. Dezember, dem ersten von zehn vorweihnachtlichen Fastentagen, die am 25. zu Ende gehen.

Verde bringt Kekse und kleine Häppchen, dazu gibt es Kaffee und Tee. Essen und Trinken am Fastentag? „Fasten heißt für uns syrisch-orthodoxe Christen, kein Fleisch, keine Milchprodukte, keine Eier, sonst ist alles erlaubt“, sagt Simon. „Indem wir Fasten zeigen wir Reue vor Gott“, erklärt Joseph Seven, Diakon der syrisch orthodoxen Gemeinde in Delmenhorst. Außerdem solle das Fasten die Gedanken rein halten. „Wer einen leeren Magen hat, der denkt an Essen und nicht an Fleischeslust“, so Seven.

Regelmäßiges Fasten – die Kilics fasten wie viele Glaubensgeschwister sechs Mal im Jahr vor hohen Feiertagen sowie ganzjährigen jeden Mittwoch und Freitag – ist für Sohn Numan kein Problem. „Ich mache mir nicht viel aus Essen“, sagt er. Seine Frau Fehime kennt er aus dem Kirchenchor der Delmenhorster Gemeinde. Auch Deniz, die Frau seines jüngeren Bruder Andreas, hat im Kirchenchor der Gemeinde gesungen. Ihr Lehrer war der Schwiegervater Simon. Was die beiden Schwiegertöchter noch gemeinsam haben? Ihre Eltern kommen aus demselben Dorf wie die Kilics – aus Mizizah in der Region Tur Abdin. Das Gebiet im Südosten der Türkei, unweit der syrischen Grenze,ist das kulturelle Zentrum der syrisch orthodoxen Aramäer. Fast die gesamte Delmenhorster Gemeinde stammt von dort, die ersten kamen Anfang der 1970er Jahre als Gastarbeiter. Wer später kam, beantragte meist Asyl. Während des Krieges in den Kurdengebieten war die die christliche Minderheit zwischen die Fronten geraten. Viele der Flüchtlinge haben inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Die über eintausend Delmenhorster Gemeindemitglieder haben vor drei Jahren in der Elsflether Straße eine der größten Kirchen der Diaspora errichtet. Der Backsteinbau wurde fast vollständig aus Spenden finanziert. Nebenan steht das Gemeindezentrum, hier treffen sich auch die Spieler des SV Tur Abdin – Delmenhorsts zweitgrößtem Fußballverein. Und hier werden auch die Gemeindefeste gefeiert.

Am 25. Dezember ist es wieder soweit. Dann brechen die Gläubigen hier nach dem Gottesdienst gemeinsam das Fasten. Denn Weihnachten beginnt für die syrisch orthodoxen Christen am 25. Dezember, so hat es der Patriarch in Damaskus festgelegt.

Simon Kilic ist sich nicht mehr sicher. Beginnt der Gottesdienst um sechs Uhr dreißig oder erst um sieben? „Um sieben Uhr“, sagt Sohn Numan. „Ja richtig, das wird auch immer später“, erinnert sich Simon. „Früher, in der Türkei, sind wird um halb vier aufgestanden um pünktlich um fünf in der Kirche zu sein.“ Auch sei damals den ganzen Dezember über gefastet worden.

Simon erzählt von den Weihnachtsfesten seiner Kindheit. Da gab es keinen Christbaum, keinen Weihnachtsmann, keine Geschenke. Strom gab es auch nicht. An Weihnachten benutzte man, statt der üblichen Petroleumlampen, Kerzen aus Bienenwachs. „Eine Aprikose oder Mandarine für die Kinder, das war für uns damals etwas Besonderes“, sagt Simon. Er sagt es ohne Wehmut. Man sieht ihm, seiner Familie und seinem Haus an, dass das einfache Leben im Tur Abdin, ohne Strom und fließend Wasser, weit zurück liegt.

Im Hintergrund läuft der aramäische Fernsehsender Suroyo. Zu sehen ist eine Weihnachtsfeier aus dem syrisch orthodoxen Gemeindezentrum in Gütersloh. Ein Weihnachtsmann verteilt Orangen, Nüsse und Süßigkeiten, ein Kinderchor singt orientalische Weisen. Die Kameraeinstellung wechselt, ein Mann mit Mikrofon redet auf aramäisch, wahrscheinlich begrüßt er die Gemeinde. „Hey Moment, den kenne ich doch!“, entfährt es Simon, „der ist auch aus Mizizah.“ Einige Sachen seien aber doch noch wie früher, unterbricht Numan seinen Vater. Zum Beispiel, dass die Kinder an den insgesamt drei Weihnachtstagen von Haus zu Haus ziehen, frohe Weihnachten wünschen und mit den Taschen voller Süßigkeiten wieder zurückkommen. Und dass sich alle kennen, dass man hier eine große Familie ist, auch daran habe sich im Delmenhorster Exil nichts geändert. Nur auf eine Sache würde Numan gerne verzichten. Auf Merga, das traditionelle Weihnachtsessen, einer Zwiebelsuppe mit Lammfleisch. „Ich mag nämlich keine Zwiebeln.“ Fritz Schorb