betr.: dutschke

Liebe Leserinnen und Leser!

Wo ist Rudi Dutschke? Das haben wir in den letzten Wochen viele Menschen gefragt. Blöde Frage? Manchem kam die Frage tatsächlich seltsam vor. Sie blockten ab. Bei anderen freilich schien es mir manchmal, als hätten sie nur darauf gewartet, so intensiv und engagiert geriet das Ringen um eine Antwort. Wo Dutschke heute wäre? Wie Deutschland mit ihm als Außenminister aussähe? Solche Fragen. Dass Dutschke Außenminister geworden wäre, schließt der APO-Weggefährte Christian Semler im taz-Gespräch (S. 7/8) aus. Dutschkes Wort vom „Marsch durch die Institutionen“ sei von Joschka Fischer fehlinterpretiert worden. Keine Zweifel hat Semler daran, dass Dutschke „ein guter Mensch“ gewesen sei, einer der vollständig ohne die Rückzugsmöglichkeit der Ironie auskommen musste oder wollte. Er meinte es ernst. Wie viel Emotionen Dutschke immer noch auslösen kann, sieht man an der öffentlichen Debatte um die Einrichtung einer Rudi-Dutschke-Straße in Berlin. Es ist beklemmend im Jahre 2004, aus der kategorischen Ablehnung einer Würdigung Dutschkes durch die Berliner CDU ansatzweise die Verblendung und den alten Hass von 1968 herauszuhören. Warum hat die taz die Umbenennung der Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße beantragt? Blenden wir zurück: Die taz hat am 11. April 1993 die beiden Gebäude der taz-Genossenschaft in Berlin-Kreuzberg offiziell zum „Rudi-Dutschke-Haus“ erklärt. Das war am 25. Jahrestag des Attentats auf Dutschke. „In Berlin gab es keinen Ort, der an Dutschke erinnert“, schrieb der damalige Chefredakteur und Mitinitiator Michael Sontheimer. Mitentscheidend sei „die unmittelbare Nachbarschaft zum Hauptsitz des Springer-Konzerns“ gewesen. Es ist historisch unumstritten, dass es ein von der Springer-Presse systematisch geschürter Hass war, der den Arbeiter Josef Bachmann antrieb, Dutschke am 11. April 1968 auf dem Berliner Kurfürsten die Kugeln in den Kopf zu jagen. Am selben Abend demonstrierten tausende im Namen der APO. Auf der Kochstraße. Gegen Springer.Um späte Rache geht es heute nicht. Es geht um eine angemessene Würdigung von Dutschkes Leben, das er gegeben hat für jenen gesellschaftlichen Fortschritt, den wir heute als selbstverständlich betrachten. Wenn das Springer-Hochhaus und die Springer-Passage nach der Umbenennung an der „Rudi-Dutschke-Straße“ liegen, ist das ein kleiner, aber sehr angemessener Randaspekt. Dutschke, hat Walter Jens gesagt, sei einer der „großen Nachkriegsdeutschen“. Er ist ein wichtiger (außerparlamentarischer) Politiker im Nachkriegsdeutschland.Eine Rudi-Dutschke-Straße muss für Berlin und Deutschland eine Selbstverständlichkeit sein. Auch Freiburg, Tübingen, Göttingen und andere deutsche Städte haben mit Sicherheit eine Straße, der der Name Rudi Dutschke gut anstünde.Der taz geht es nicht um Heroisierung. Aber Rudi Dutschke ist eine Symbolfigur für die Errungenschaften der 68er. Es geht darum, eine zentrale Bewegung im Nachkriegsdeutschland im kollektiven Gedächtnis am Leben zu erhalten. Dies ist der tiefere Sinn der taz-Aktion und im Übrigen auch dieser Ausgabe. PETER UNFRIED
für Redaktion und Chefredaktion