Weihnachten ist Vergangenheit

Für gut 300 Kölner Obdachlose und Arme bedeutet die Weihnachtsfeier der Diakonie ein paar Stunden Wärme. So manch einen überkommt Wehmut ob einer besseren Vergangenheit und der Aussicht, diesen Tag irgendwie rumkriegen zu müssen

VON SUSANNE GANNOTT

Im Foyer ist die Hölle los. An langen, weiß gedeckten Tischen sitzen an die 300 Männer und Frauen, junge und alte, dicht an dicht. Freundliche Bedienungen bringen frisch gefüllte Thermoskannen und Nachschub an Brötchen, Plätzchen, Honigkuchen. Viele Gäste kennen sich, tauschen zwischen zwei Bissen Neuigkeiten aus. Andere kauen stumm vor sich hin oder rauchen mit zittriger Hand eine Zigarette. Unter den Tischen stapeln sich Rucksäcke, Taschen und überquellende Plastiktüten. Ein Akkordeon spielt „Ihr Kinderlein kommet“. In der Ecke vor dem Klavier blinken die Lichter des Weihnachtsbaums. Es ist 10 Uhr am Morgen des 24. Dezember, die Diakonie gibt eine Weihnachtsfeier für Wohnungslose und Arme im Haus der Evangelischen Kirche in der Kartäusergasse.

Monika schenkt sich und ihren Sitznachbarn Kaffee ein. Eine der ehrenamtlichen Helferinnen kommt mit dem Brötchentablett vorbei, doch Monika winkt ab. „Ich hab Probleme damit, weil ich oben keine Zähne mehr hab.“ Monika ist 49 Jahre alt und „im Kopf nicht ganz richtig“, wie sie sagt. Sie lebt im Behindertenheim von Michaelshoven. Was sie so macht? „Na was schon, ich arbeite in der Behindertenwerkstatt, Schräubchen drehen und so.“ Lieber würde sie „was mit Kindern“ machen. „Aber mit Arbeit ist es ja gerade nicht so einfach.“

Ein älterer Herr im braunen, leicht zerbeulten Wollsacko tritt an den Tisch, um Monika zu begrüßen. Man kennt sich vom Diakoniehaus am Salierring, wo es für einen Euro Frühstück gibt. Trotz des weiten Weges von Rodenkirchen fährt Monika oft dorthin, „ich hab ja frei fahren mit der Bahn“. Andrea, die Monika gegenüber sitzt, will etwas loswerden. Es geht um ihre Zähne. Auch bei Andrea fehlt, obwohl sie kaum älter als 35 sein dürfte, fast die ganze obere Zahnreihe. „Fragt mich die Ärztin, warum kommen sie damit erst jetzt? Sag ich: Das müssen sie meine Sozialarbeiterin fragen.“ Andrea vermutet, dass das Sozialamt ihr die Behandlung nicht bezahlen will, weil das bei ihr teuer sei. „Ich brauch ein festes Implantat, weil ich Krämpfe habe.“ Das Gebiss fliegt ihr raus, wenn sie einen Anfall kriegt. „Zweimal habe ich es auch schon verschluckt.“

Das Gespräch verstummt. Eine fliederfarben gekleidete Frau mit roter Strähnchenfrisur singt zur Klavierbegleitung kölsche Weihnachtslieder. „Ich wünsche mir vom hillije Mann, wat mer sich net kaufe kann...“ Monika nimmt die Geschenketüte in Augenschein, die jeder Gast bekommen hat. Sie scheint zufrieden zu sein: Es gibt Brot, Orangen, Nescafé, Kekse, Aufstrich, Duschgel, eine Flasche Rabenhorst-Saft und andere nützliche Dinge. Nur mit dem Schwarzer Krauser-Tabak kann Monika nicht viel anfangen. Andrea bietet an, den Tabak gegen etwas anderes einzutauschen. Aber Monika will nicht. „Den verklopp‘ ich an einen Bekannten.“

Inzwischen haben die Helfer begonnen, das Frühstücksgeschirr abzuräumen. Am Buffet neben der Treppe beginnen die Vorbereitungen für das Mittagessen: Erbsensuppe mit Würstchen. Während Monika und Andrea ihren Zahndialog wieder aufnehmen, wird es am anderen Ende des Tisches immer stiller. Dort sitzt Klaus mit zwei Bekannten. Die Musik spielt „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ und Klaus überfällt Wehmut. „An Weihnachten denk ich zurück, wie es früher war. Das ist schon traurig.“ Noch vor eineinhalb Jahren hatte Klaus eine Frau, Sohn, Haus, „und zwei Mercedes. Es hat uns an nichts gefehlt.“ Bis sich die Frau einen Geliebten nahm. Es gab Streit, die Frau stach zu, mit dem Brotmesser in den Bauch. Während Klaus im Krankenhaus lag, erwirkte sie eine einstweilige Verfügung, „dass ich mich ihr nicht auf 500 Meter nähern darf“. Und weil sie seinem Arbeitgeber nicht Bescheid sagte, dass er krank ist, bekam er die Kündigung.

Seitdem lebt Klaus auf der Straße. Das Sozialamt hatte ihn ins Obdachlosenheim eingewiesen, aber da war es so schlimm, dass sich der 50-Jährige seinen Schlafplatz lieber irgendwo draußen sucht. „So geht es vielen.“ Sein Blick schweift durch den Raum. „Das hier ist ja nur ein Bruchteil.“ Mehr als 8.000 Obdachlose soll es in Köln geben, wie er gehört hat. „Und mit Hartz wird das alles noch schlimmer.“ Auf den Januar freut sich Klaus trotzdem. Dann kann er wieder ein bisschen arbeiten, als Fahrer für eine Karnevalsgruppe. Und im Februar könnte er eine kleine Wohnung beziehen. „Aber ich bin mir noch nicht sicher, ob ich die Miete auf Dauer bezahlen kann.“ Schließlich muss er jetzt schon betteln gehen, weil die Stütze nicht reicht.

Es ist halb eins, so langsam ziehen die Gäste ab. Klaus wird sich mit zwei Freunden treffen. Sie wollen drei Päckchen Kaffee kaufen, „kleines Dankeschön für eine Frau, die uns immer mit belegten Brötchen versorgt“. Danach will er zum Wiener Platz fahren und sich sein Weihnachtsgeschenk kaufen: ein Handy, das alte haben sie ihm geklaut. Danach muss er irgendwie den Rest des Tages rumkriegen.