Bilder für eine Galerie ganz anderer Art

Der Troisdorfer Künstler Tor Michael Sönksen leitet seit zehn Jahren ehrenamtlich eine Malgruppe in der Justizvollzugsanstalt Siegburg. Der Malraum ist eine Zelle mit bemalten Wänden. Auch im Zimmer des Direktors hängen Bilder. Für ihn bedeutet Kunst im Knast vor allem ein „gutes Betriebsklima“

Von Melanie Katzenberger

Eine hohe, dunkle Backsteinmauer. Daneben ein flacher Neubau mit großen Fenstern. Dahinter ein wuchtiges, altes Gebäude mit einer Glocke im Giebel. Die Uhr unter der Glocke zeigt 18 Uhr. Tor Michael Sönksen geht auf den Neubau zu, den Eingang zur Justizvollzugsanstalt (JVA) Siegburg. Sönksen, silbergraue kurze Haare, gestutzter Bart, öffnet die Tür, tritt ein, grüßt die Männer hinter der Scheibe. Einer reicht ihm einen Schlüssel. Sönksen sperrt eine Türe auf und hinter sich wieder zu. Er läuft durch einen Innenhof, steigt eine Treppe hinauf. Wieder Türen und Schlösser. Knarren und Knirschen.

„Am Anfang war das fürchterlich bedrückend“, erinnert sich der 60-Jährige. Vor zehn Jahren kam der Künstler zum ersten Mal in den Siegburger Knast. Eine Sozialarbeiterin hatte ihn gefragt, ob er ehrenamtlich Gefangenen das Malen beibringen wolle. „Ich wollte erst nicht“, sagt er. Berührungsangst. „Das ist nicht gerade mein Bekanntenkreis hier“, versucht er zu erklären. Sönksen probierte es trotzdem – und blieb hängen. Seitdem fährt er jeden Donnerstag von Troisdorf, wo er wohnt, nach Siegburg, wo seine Malschüler eingesperrt sind. Nur in den Schulferien fällt der Kurs aus.

Stimmen, Schritte. Zu sehen ist niemand. Die Geräusche hallen wider wie im Schwimmbad. Eine Galerie führt über zwei Etagen an den Zellentüren vorbei. Sönksen hat die Ärmel hochgekrempelt. Keine Jacke, keine Tasche. Als wäre er nicht zu Besuch, sondern hier zu Hause. Ruhig und sicher bewegt er sich im Labyrinth der frei schwebenden Gänge. Das lange, schmale Backsteinhaus ist mehr als 100 Jahre alt. Döblin und Fallada haben solche Zuchthäuser in ihren Romanen beschrieben. Nur die Bilder an den Wänden zwischen den Zellentüren gab es damals noch nicht. Große Bilder, bunte Bilder. „Ja, ja, die sind alle bei mir entstanden“, sagt Sönksen. Es klingt nicht stolz, eher verwundert, vielleicht darüber, wie lange er jetzt schon hierher kommt, wo er doch erst nicht wollte.

700 Männer sind in der JVA Siegburg im Moment eingesperrt. „Bei einer Belegungsfähigkeit von 650“, sagt Wolfgang Neufeind. Der promovierte Jurist aus Köln leitet die JVA Siegburg seit 12 Jahren. Neufeind mag Bilder. Sein Vater war Porzellanmalermeister. Er selbst geht gerne in Ausstellungen. „Bonn, Köln, Düsseldorf“, zählt er auf. Neufeind mag Warhol, Dalí, die alten Holländer.

In seinem Arbeitszimmer hängen vier Bilder. Ein mal ein Meter sind sie groß. Gefangene haben sie gemalt. Kunst im Knast bedeutet für ihn vor allem ein „gutes Betriebsklima“. Früher gab es bis zu zwei Ausbruchversuchen pro Woche. Heute ist das anders. Alle scheinen sich wohler zu fühlen, die Beamten, die Gefangenen. Es sei, als hätten die Bilder an den Wänden dem Knast ein wenig von seiner Härte genommen, so Neufeind.

Brücke zur Außenwelt

Der Malraum ist eine Zelle: ein langer Schlauch, mit bemalten Wänden, in der Mitte acht Tische, zusammengerückt zu einer langen Tafel. Darauf Tuben mit Dispersionsfarbe, Pinsel, Stifte, ein Kasten mit Pastellkreiden, Kunstbücher, Aschenbecher. Blick in den Gefängnishof. Kalter Rauch. Ein Mann kommt herein, Jogginghose, Sweatshirt, Badelatschen. Er reicht Sönksen die Hand, ein zweiter, ein dritter folgen. In ihren Trainingsanzügen sehen sie aus wie Fußballspieler nach einem verlorenen Spiel. Müde und melancholisch. Zu acht sind sie in Sönksens Malkurs. Mehr passen nicht in den Raum. Heute kommen nur sechs. Zwei wollen nicht. „Nicht gut drauf“, sagen die Mitgefangenen. „Depressiv“, sagt Sönksen, „das kann hier passieren.“

30 Prozent der Gefangenen haben keine Arbeit. Weder im knasteigenen Betrieb, der die beiden Gefängnisgebäude und das Gelände in Schuss hält, noch in Firmen draußen. Sie kommen im schlimmsten Fall nur zum Hofgang raus aus der Zelle, eine Stunde am Tag. Für die Beschäftigungslosen sind Freizeitangebote besonders wichtig.

Doch auch die Häftlinge, die Arbeit haben, besuchen gerne die Kochgruppe, das Schachturnier, den Gesprächskreis, den Malkurs, das Sporttraining. Um manche Gruppen kümmert sich JVA-Personal, die meisten aber betreuen ehrenamtliche Helfer. 260 sind es derzeit in Siegburg, darunter die Anonymen Alkoholiker, die Evangelische Kirche, ein Gymnasium und zahlreiche Einzelpersonen.

Knastchef Neufeind freut sich darüber. Nicht nur, weil die Ehrenamtler außer Fahrtgeld und Material nichts kosten. Sie sind auch eine Brücke zur Außenwelt. Neufeind: „Als geschlossener Vollzug haben wir ganz besonders den Auftrag, Kontakt nach außen zu halten.“ Obwohl in Siegburg mehr Ehrenamtliche aktiv sind als in anderen Gefängnissen in NRW, sind die Wartelisten und Wartezeiten für viele Freizeitgruppen auch hier lang. Zwei Wochen bis drei Monate, schätzt Neufeind, müsse sich ein Gefangener gedulden. Auch auf der Liste für Sönksens Malgruppe stehen über 20 Namen.

Malen lenkt ab

Jurij P. hat es geschafft, er ist seit fünf Monaten in Sönksens Kurs. Die Beine angezogen, hockt er auf einem Stuhl. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein Bild. Er hat es letzte Woche angefangen. Ein dunkler Sternenhimmel mit einer Weltkugel in der rechten unteren Ecke. „Das ist Ostrussland“, sagt der 28-Jährige und deutet mit seiner schmalen Hand auf die Erdkugel.

Jurij P. sieht aus wie Wladimir Putin, als er jung war. Ernst und blass. Zäh und zerbrechlich zugleich. Er taucht den Pinsel in weiße Farbe und kreist damit über die Erdkugel. Ein Wirbelsturm über Kamtschatka. Jurij P. kommt aus Kasachstan. Früher wollte er Grafiker werden. „Dann kam der Kapitalismus“, sagt er. Im Kapitalismus sei eine künstlerische Ausbildung zu teuer.

Einen Beruf hat Jurij P. nie gelernt. Er war 21, als er nach Deutschland kam. „Hier gab es alles“, sagt er und meint Heroin und Kokain. Körperlich sei er runter von den Drogen. Doch oft habe er „große Lust, einen Knall zu machen“. Das Malen lenkt ihn ab. „Wenn ich male, kann ich alles vergessen“, sagt er, „es ist mein Beruhigungsmittel.“

Rund 20 Prozent der jugendlichen und rund 45 Prozent der erwachsenen Gefangenen sind laut Neufeind „behandlungsbedürftig“ süchtig. Gemeint ist dabei nur die Sucht nach illegalen Drogen. Die Suchtkranken können außerhalb eine Therapie machen, die auf die Strafzeit angerechnet wird. Andere versuchen, im Knast an Stoff zu kommen.

„Dass das dort leichter geht als draußen, stimmt nicht“, sagt Neufeind. Schon allein, weil Drogen im Gefängnis besonders teuer sind. Andererseits: Ganz drogenfrei sei kein Knast zu kriegen. Sönksens Eindruck: „Den ehrbaren Beruf des Ganoven gibt es nicht mehr. Fast alle haben irgendwas mit Drogen zu tun.“ Deshalb macht er auch keine Theorie. „Das wäre gar nicht möglich“, sagt Sönksen. Wer gerade eine Suchtattacke hat, der will sich nicht mit Bildkomposition, Farblehre und der richtigen Perspektive befassen. Manche kommen, rauchen und reden nur und nehmen sich ein paar Anregungen mit für die langen Stunden auf der Zelle. Wie Rainer S.

Er malt nicht gegen die Sucht an. Er malt für seinen Sohn. Der ist vier Jahre alt, kann noch nicht lesen. Deshalb malt Rainer S. Bilder für ihn. „Das ist die einzige Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren“, sagt der 43-Jährige. Er legt drei Bilder auf den Tisch und erzählt. Anfangs habe er sich von Sönksen alles vor malen lassen und es dann in seiner Zelle abgemalt. Jetzt gehe es schon alleine. „Das hätte ich nie gedacht“, sagt S. Seine Bilder sehen aus wie Kinderzeichnungen. Eines zeigt einen Badesee. „Da war ich oft mit meinem Sohn.“ Zwei Kinder stehen im Wasser, werfen sich einen Ball zu, ein Mädchen liegt auf einer Luftmatratze. Auf die Rückseite hat er einen Brief geschrieben, in Kinderschrift, damit sein Sohn sich leichter tut, wenn er mal lesen kann.

Postkarten von Häftlingen

Rainer S. hat seinen Lebensunterhalt früher mit Klauen verdient. Dafür hat er 4 Jahre und 6 Monate gesessen. Damit war die Sache für ihn erledigt. Er machte sich als Gärtner selbstständig, lernte eine Frau kennen, wurde Vater. Doch er war nur auf Bewährung raus. Als er ohne Führerschein Auto fuhr, „weil ich davor auch 20 Jahre ohne gefahren bin“, und erwischt wurde, musste er zurück ins Gefängnis. In einem Jahr kommt Rainer S. raus. Dann will er weitermalen, mit seinem Sohn. „Ich habe hier bei Herrn Sönksen künstlerisch viel mitgekriegt“, sagt er.

Es ist 20 Uhr. Die Häftlinge müssen zurück in ihre Zellen. Sönksen schüttelt Hände, schließt Türen auf und zu, gibt den Schlüssel zurück. Draußen ist es dunkel und kühl. „Ich kann die Leute teilweise gut leiden“, sagt Sönksen. Manchmal bekommt er Postkarten von Ex-Häftlingen. Engen Kontakt hat er hinterher zu keinem. „Wenn die raus kommen, haben die ganz andere Probleme“, sagt er. Sie müssen eine Wohnung finden, einen Job. Oft rutschen sie dabei in ihre alten Kreise. Rückfälle sind häufig. Manche habe er hier zwei, drei Mal getroffen. Sönksen erzählt von einem talentierten Bankräuber. „Seine Bilder wären im Wallraf-Richartz-Museum nicht aufgefallen.“