Mary die Weihnachtsgans (3)

Der kleine taz-Fortsetzungsroman zwischen den Jahren in fünf Folgen. Von Tim Ingold

Was bisher geschah: Die dem Tod entronnene Weihnachtsgans Mary stillt ihren Hunger mit überfahrenen Tieren und erfindet dabei den praktischen Roadscraper®, der reißenden Absatz findet.

Mary hing der Magen in den Kniekehlen. Da die Deutsche Bahn die Bordrestaurants abgeschafft hatte, war sie wieder einmal auf der Suche nach Essbarem. In einem noblen Vorort spähte Mary in die festlich erleuchteten Fenster einer protzigen Villa. In der Mitte des Raumes stand ein ausladender Weihnachtsbaum, der mit geschmacklosen FC-Bayern-Christbaumkugeln behängt war. Ein älterer Mann mit Stirnglatze und Brille bekam soeben von einer reichlich verorgelt aussehenden Frau ein Präsent überreicht. „Jo, is denn scho Weihnochten?“, fragte der Mann ungläubig. „Ja, Franz, es ist Weihnachten, verdammt noch mal!“, stöhnte die Frau. Der Mann packte das Präsent aus und versuchte so zu tun, als würde er sich über das Handy freuen.

Mary ging ein Haus weiter. Im weihnachtlichen Wohnzimmer saß Uschi Glas auf einer Couch und leerte in atemberaubendem Tempo eine Flasche Gin nach der anderen. Frau Glas war verzweifelt: ihr Mann hatte sie verlassen, ihr Sohn war im Knast und der Hund hatte Selbstmord begangen. Plötzlich erschien ein durchtrainierter Callboy, der nur mit einer roten Zipfelmütze und einer kleinen roten Schleife bekleidet war, welche sein halb erigiertes Glied schmückte. „Zur Sache, Schätzchen“, sagte der Jüngling. Frau Glas grunzte matt und zwitscherte sich noch einen Fußbreit Gin hinter die Binde, bevor sie versuchte, sich die Bluse aufzuknöpfen. Schaudernd wandte Mary sich ab.

Sie wollte gerade gehen, da bemerkte sie, dass zwei Häuser weiter dichter Rauch aus einem Fenster drang. Besorgt klingelte sie. Es öffnete ihr Ralph Siegel. Er hatte drei brennende Kippen gleichzeitig im Mund und rote Augen von all dem Qualm. „Was bist du denn, ‘ne Weihnachtsgans? Ich feier kein Weihnachten, hab keine Zeit für so was“, brabbelte Siegel hyperaktiv los. „Muss unbedingt ein Lied schreiben, das den Grand Prix gewinnt. Als Nicole 1982 gewonnen hat, war das die beste Zeit meines Lebens. Ich hab zwar ‘nen Hörsturz bekommen von dem ganzen Stress, aber meine Güte, war das geil! Mir klingeln heute noch die Ohren. Ich hab auch schon jede Menge Ideen. Bernd Eichinger und Corinna Harfouch singen im Duett so was wie ‚Die Nazis sind auch Menschen nur / mit Ängsten, Sorgen, Nöten / Auch wenn sie ab und zu einmal / Millionen Juden töten’. Wär das nicht ein Kracher? Begleitet vom Philharmonischen Orchester Tel Aviv, das wär doch mal ein echter Beitrag zur Versöhnung! Kommt ja immer gut, Friedenslieder und so.“ Siegel kratzte sich nervös zwischen den Beinen und steckte sich eine vierte Kippe in den Hals. „Schade, dass Leni Riefenstahl schon tot ist“, schwadronierte er weiter, „die hätte mit ‘ner Neuauflage von ‚Non, Je Ne Regrette Rien’ bestimmt höllisch abgeräumt. Vielleicht hätte man auch Eichinger, Harfouch und Riefenstahl gemeinsam auf die Bühne bringen können, Filmschaffende unter sich, die German Movie Industry Allstars oder so ‘ne Nummer im Stil von ‚We Are The World’. Ach, Träume, mein Gott!“ Siegel wischte sich eine sentimentale Träne aus dem Augenwinkel. „Äh, ich muss dann mal wieder, sagte Mary.“ – „Oder Boris Becker: ’Ich bin ein kleiner Leimener / Ich habe eine Klatsche / Wo andernorts ein Hirn regiert / Da habe ich nur Matsche.’ Toller Song, oder? Stell dir das mal mit Frauenchor und Streichern vor! Genial! Ach, oder Nina Ruge – he, wo willste denn hin? Was hälste denn davon?“, schrie Siegel in die Heilige Nacht. Mary hatte sich abgewandt und war gegangen.

Im Garten von Uschi Glas baumelte der steifgefrorene Hund an seiner Leine von einem Baum. Mary machte ein Feuer unter dem Köter und briet das Vieh gut durch. Solchermaßen gestärkt beschloss sie, diese grauenhafte Stadt so schnell wie möglich wieder zu verlassen.

Tim Ingold, Jahrgang 1974, lebt als freier Autor, Musiker und Journalist in Bremen. Als Vegetarier isst er keine Gänse.