Frühstück bei Ikea

Immer mehr Menschen fahren ins Möbelhaus – um zu essen. Absurd – oder ein Fortschritt?

VON PETER UNFRIED

Eine der interessanteren gesellschaftlichen Entwicklungen dieses Jahres scheint mir, dass man offenbar verstärkt in sein Möbelhaus zum Essen fährt. So ändern sich die Zeiten: Sicher inspiriert vom Kino und Audrey Hepburn – und nicht von Truman Capotes Roman –, schwärmte das Proletariat und die untere Mittelschicht einst von einem Frühstück bei Tiffany’s – vergebliches Sehnen nach dem großen sozialen ist gleich monetären Aufstieg im kapitalistischen Nachkriegsparadies Erste Welt. Heute geht der Mensch zum Frühstück zu Ikea, zumindest wenn der Laden einigermaßen in der Nähe ist. Ein demokratisches Moment, weil der günstige Preis es vielen ermöglicht? Der kleinste gemeinsame Nenner der entpolitisierten jüngeren Hälfte der Bevölkerung?

Das schwedische Unternehmen des Ingvar Kamprad ist jedenfalls seit längerem erfolgreich damit beschäftigt, sein vormals studentisches Image zur Massenkultur zu machen. Interessanterweise wächst der Gewinn in Deutschland besonders stark im Bereich Restaurants. Manche, sagte der Ikea-Deutschland-Chef Werner Weber unlängst dem Berliner Tagesspiegel, kämen nun sogar sonntags (11 bis 16 Uhr geöffnet), „um Möbel zu kucken und zu essen“.

Das Restaurant-Konzept: Ist schlüssig. Nach ein bis zwei Stunden des Möbelschauens hält man vor dem alles entscheidenden Gang in die Lagerhalle inne, um sich zu sammeln. „Free Flow“-Prinzip, Selbstbedienung: Man macht das Tablett voll, isst ein bisschen Fleischbällchen, ein bisschen Flusskrebs, ein bisschen Bio, und es ist okay und hat ein optimales Preis-Leistungs-Verhältnis. Speziell der kostenlose Refill von Heiß- und Kaltgetränken trägt zu dem Gefühl bei, man werde hier mal ausnahmsweise nicht beschissen. Tja. Mit einem warmen Gefühl im Hirn geht man beschwingt den langen Weg durch das Gläser- und Tellersortiment in die Lagerhalle, und nimmt alles mit, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.

Alltagskultur: Tatsächlich beobachtet man in den Alltagsdiskursen gewisser Mittelschichtskreise Ikea-Auffälligkeiten. US-Amerikaner schwärmen im Internat vom Ikea-Fisch. „A dandy place to try herring“, heißt es da. In Deutschland sprechen immer mehr die Fleischbällchen Köttbullar richtig, nämlich „Schöttbullar“ aus (vgl. untenstehenden Text). Wer es tut, ist voll auf Diskurshöhe. Wer es nicht schleunigst rafft, kriegt Probleme.

Was Berlins weiße Mittelschicht betrifft, so ist sie nach meinen unrepräsentativen Umfragen noch näher an Ikea gerückt, seit in diesem Jahr eine Filiale in Tempelhof und damit zentrumsnah eröffnet wurde. Eine Testperson (weiblich, Mitte 30): Ob es etwa um einen „entlarvenden tazzwei-Artikel“ gehe? Klar. Zögern, dann die selbstbewusste Antwort: „Ich stehe voll und ganz dazu, bei Ikea zu essen.“ Eine andere Testperson (weiblich, Ende 20): „Ja, ich esse da. Aber wirklich nur, wenn ich einkaufen will.“ Wirklich? Andere behaupten, sie gingen hin, aber wirklich „nur frühstücken“.

Was soll das? Meine These: Ikea ist eine Kultur der Überwindung von Mutter und des mütterlichen Zuhauses. Zugleich ist Ikea eine neue Mutter. Eine neutrale, eine bequeme. Billy ist der Mitgliedsausweis zu einer Masse, die sich zunächst schwer definieren lässt. Eine Haltung und Identität definiert sich im Einzelfall durch das, was auf den Regalen steht. Beim Restaurant ist es ähnlich: Es schmeckt anders bei Muttern, aber nur ein bisschen – man isst auswärts und ist doch zu Hause. Man sieht es am Mobiliar.

Der Test: Testfamilie (zwei groß, zwei klein). Gestern, 10.28 Uhr, Ikea-Restaurant Tempelhof. Wer rausschaut, kann unsere drei Flaggen im Winterwind wehen sehen. Die deutsche, die schwedische – und die von Ikea. Das Restaurant ist voll. Schlangen beim Einfädeln in den Auswahl- und Abholsektor. Drängeln an der Refill-Station, wo sich auf Höhe des rot umrandeten Wortes „Gratis“ die Tassen der Erst-Einfüller und die der Nachschütter in die Quere kommen. Das weiche Ei ist hart, das Rührei auch, aber das ist in jedem Hotelbuffet auch so, wo nicht auf Bestellung und frisch gekocht wird.

Der Gravad Lachs (3,90 Euro) ist okay, der Preis des Käsefrühstücks (1,21 Euro) muss zwanghaft thematisiert werden. Preise wie in der Fränkischen Schweiz. Ja, da ist es auch so schön.

Wie finden es die Kinder? Salomonische Antwort: „Eigentlich ganz schön, bis auf das Essen.“ Na, werdet ihr mal alt, dann seht ihr auch manches anders.