Wenn ein ganzes Lebensgebäude zusammenbricht

Seit sechs Jahren gibt es in Köln Erste-Hilfe-Seelsorger. Sie unterstützen Polizei, Feuerwehr und Notärzte bei Einsätzen, helfen Hinterbliebenen etwa von Unfallopfern, den ersten Schmerz zu verarbeiten. 20 Ehrenamtliche bieten Menschen in Krisensituationen rund um die Uhr psychische Unterstützung

Von Claudia Lehnen

Ein unerwarteter Zusammenbruch, ein herbeigerufener Notarzt, der nur noch den Tod feststellen kann, eine traumatisierte Witwe und kein Angehöriger weit und breit. Wenn in und um Köln der Tod ganz plötzlich vor der Tür steht, wenn Rettungssanitäter oder Feuerwehrleute gescheitert sind, wenn niemand mehr zu retten ist, dann kommen Peter Neumann und Holger Reiprich-Meurer zum Einsatz. Wenn es darum geht, die aufzurichten, die übrig geblieben sind.

Der 59 Jahre alte katholische Diakon und Feuerwehrseelsorger Peter Neumann koordiniert zusammen mit seinem evangelischen Kollegen Holger Reiprich-Meurer die Notfallseelsorge in Köln. Sie und 20 ehrenamtliche Männer und Frauen des pastoralen Dienstes bieten rund um die Uhr „erste Hilfe für die Seele“, wenn Menschen in extreme Situationen geraten. Sie werden von der Einsatzzentrale der Berufsfeuerwehr, von Polizisten oder Rettungssanitätern gerufen, wenn nach einem Unglücksfall nicht nur medizinische, sondern auch psychische Hilfe Not tut.

„Bei einem Todesfall können die Rettungsleute oft nicht lange bei Hinterbliebenen ausharren, weil schon der nächste Einsatz auf sie wartet“, erklärt Neumann. Gerade bei unerwarteten Todesfällen, dem plötzlichen Kindstod, Selbstmord oder schweren Unfällen benötigten Hinterbliebene aber oft sofortige psychische Unterstützung. „Unsere Aufgabe ist es, das Unfassbare mit den Betroffenen zu teilen, es mit ihnen auszuhalten“, sagt Reiprich-Meurer. Die Notfallseelsorger helfen gerade in den ersten Stunden nach einem traumatischen Ereignis, das Geschehene zu realisieren. Rund 120 Mal im Jahr werden sie zu Einsätzen gerufen. Meist werden die Seelsorger mit Menschen konfrontiert, deren „ganzes Lebensgebäude in diesen Stunden zusammenbricht“, wie Neumann sagt.

Mit Trauerbegleitung haben alle ehrenamtlichen Mitglieder der Notfallseelsorge schon viel Erfahrung sammeln können, schließlich sind sie hauptberuflich alle Pastoren, Pastorinnen, Pfarrer, Kapläne, Diakone oder Pastoralreferenten. „Ich habe beispielsweise schon über tausend Leute beerdigt“, sagt Neumann. Außerdem haben alle eine Zusatzausbildung in Psychotraumatologie absolviert.

Der Einsatz als Notfallseelsorger erfordert viel Einfühlungsvermögen, aber vor allem auch psychische Stärke. Gerade wenn Kinder sterben oder bei besonders grausamen Unfällen machten sich die Zurückbleibenden oft schwere Vorwürfe, drohten an der Vorstellung, selbst versagt zu haben, zu zerbrechen.

Besonders das Gestalten des Abschiednehmens von einem Angehörigen sehen Neumann und Reiprich-Meurer als eine ihrer zentralen Aufgaben. Viele Menschen hätten große Schwierigkeiten damit, den Toten anzufassen. „Ich animiere die Hinterbliebenen dann, ihr totes Kind oder ihren toten Partner in den Arm zu nehmen, zu herzen und ihm ein letztes Mal ganz nah zu sein“, erzählt Neumann, der als Diakon für die Gemeinde Longerich-Lindweiler zuständig ist.

In Köln gibt es die Erste-Hilfe-Seelsorger seit sechs Jahren. Gerade nach dem Zugunglück in Eschede sei Psychotraumatologie in Deutschland plötzlich ein Thema geworden. „Feuerwehrleute sind an uns herangetreten und baten um Unterstützung“, sagt Reiprich-Meurer. In den USA gebe es Notfallseelsorger und Psychotraumatologen schon seit dem Ende des Vietnamkrieges. Die Kölner Notfallseelsorger fangen Betroffene nicht nur in ihrem ersten Schmerz auf, sondern unterstützen sie auch bei der Suche nach einem passenden Beerdigungsinstitut. Spätestens wenn der Tote unter der Erde ist, haben sie für Hinterbliebene ein soziales Umfeld aktiviert, welches ihr erstes Auffangnetz ersetzt. „Ein eigenes soziales Netz aus bekannten Personen ist wichtig. Da können sich Trauernde besser fallen lassen“, sagt der 39 Jahre alte Reiprich-Meurer, der nicht nur die Arbeit der Notfallseelsorge in Köln, sondern darüber hinaus auch im Rhein-Erft-Kreis und im Rheinisch-Bergischen-Kreis koordiniert.

Neumann und Reiprich-Meurer betonen, dass die Notfallseelsorger ein ökumenisches Angebot seien, ein Gemeinschaftsprojekt von evangelischem Stadtkirchenverband und dem Stadtdekanat Köln. Bei ihren Einsätzen könnten sie aber auch Menschen ohne christlichen Hintergrund aufrichten. Psychischer Beistand helfe Betroffenen in diesen Krisensituationen immer, egal welche Weltanschauung sie vertreten. Noch nie hat es Peter Neumann zufolge einen Fall gegeben, in dem sich ein Hinterbliebener etwa geweigert hätte, sich von einem Geistlichen betreuen zu lassen: „In solchen Akutsituationen gibt es keine Dogmen mehr oder Gesetze, die sich Menschen ausgedacht haben.“