Die serbische Einöde

FERNWEH Ana und Lidija sind Freundinnen. Die eine hat es geschafft, im Ausland zu studieren, die andere träumt weiter davon

Visum: Will man als serbischer Staatsbürger in Deutschland studieren, muss man neben anderen Unterlagen (Uni) auch nachweisen, dass man genügend Geld hat.

■ Sperrkonto: Erforderlich ist ein „Nachweis durch Bestätigung (Original und Kopie) der Bank, dass Sie Inhaber eines Sperrkontos bei einer Bank in Deutschland mit einem Guthaben von mindestens EUR 7.716,00 (pro Jahr) sind. Das Sperrkonto muss mit dem Sperrvermerk „Finanzierung Studium“ ausgestattet sein und darüber hinaus nur die Auszahlung von max. 1/12 des Guthabens pro Monat zulassen“ (Botschafts-Website)

■ Weiteres: Außerdem ist eine Krankenversicherung nötig. Dokumente sind mit amtlich beglaubigter deutscher Übersetzung vorzulegen. Visagebühr: 35 Euro

AUS BELGRAD ANDREJ IVANJI

Seit dem Gymnasium hatten Ana und Lidija den gleichen Traum: aus Serbien wegzugehen und irgendwo in Europa zu studieren, irgendwo im europäischen Ausland zu leben und zu sehen, wie es „da draußen“ ist. Außerhalb des „serbischen Käfigs“. Ana Švab hat es geschafft. Seit einem Jahr lebt sie in London und macht dort ihr Masterstudium. Ihre Freundin, Lidija Milić, träumt noch immer von der großen, fernen Welt. Seit Jahren dreht sie sich im Kreise: Einerseits möchte sie ihrem als perspektivlos empfundenen Leben in Serbien entfliehen, andererseits fühlt sie sich abgewiesen oder eingeschüchtert von den Hürden der Bürokratie, die sie meistern müsste, um nur die Grenze Richtung Westen überschreiten zu können.

Ana und Lidija sind 25 Jahre alt, kommen beide aus Belgrad. Sie waren sieben, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien begonnen hat. Sie wuchsen in einem Land auf, das von der westlichen Welt verhöhnt und in dem umgekehrt der Westen zum Feind des Serbentums erklärt wurde. Ihre Schulzeit war von Krieg, internationalem Wirtschaftsembargo, einer Milliardeninflation, von Studenten- und Schülerprotesten gegen das absolutistische Regime von Slobodan Milošević geprägt, sie erlebten dauerhaft Krisen, Unterrichtsausfall und auch die Luftangriffe der Nato auf ihr Land.

Seit sie denken können, leben sie in einer Art Isolation. Seit sie alt genug sind, um allein zu verreisen, plagt sie das Bewusstsein, dass ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist. „Daran hat sich seit der demokratischen Wende in Serbien im Jahr 2000 nichts geändert“, sagt Lidija. Serbien ist nicht in der EU. Bislang gibt es nur ein Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen zwischen Serbien und der Union, das als Abkommen für eine Art Vormitgliedschaft gilt und auch noch nicht in Kraft getreten ist – die Bedingung dafür ist, dass Serbien die zwei noch gesuchten Kriegsverbrecher fasst und dem UN-Tribunal in Den Haag ausliefert. Der Weg zu einer vollen EU-Mitgliedschaft ist also noch weit, und allmählich erlischt selbst bei jungen Menschen die Hoffnung, dass Serbien ein gleichberechtigter Teil Europas wird.

Ana und Lidija stammen aus der bürgerlichen Mittelschicht, beide unterstützten sie die proeuropäischen politischen Kräfte in Serbien, beide studierten an der philologischen Fakultät in Belgrad: Ana Ukrainisch, Lidija Englisch. Beide waren schon mit ihren Eltern in einigen EU-Ländern, beide wollten sie weg aus Serbien. Und da hören die Ähnlichkeiten schon auf.

Dageblieben

Auf den ersten Blick wirkt Lidija sehr schüchtern. Sie spricht leise, fühlt sich bei dem Gespräch offensichtlich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Man merkt, wie peinlich es ihr ist, als sie in dem randvollen Garten eines Cafés in Belgrad fotografiert wird. Sie antwortet knapp und wartet dann still auf die nächste Frage.

„Ich wollte schon immer weg. Mit einer Gesellschaft, in der die einzigen Werte materielle sind, konnte ich mich nicht identifizieren“

ANA ŠVAB

„Ja, vielleicht bin ich nicht energisch oder vorlaut genug“, gibt sie lächelnd zu. Doch an Willen fehlt es ihr nicht, sie will weg, ihren Bildungsweg in einem anderen Schulsystem fortsetzen, die „serbische Einöde“ verlassen und in einem anderen Land zumindest eine Zeit lang leben. „Ich war eine gute Studentin und bin sicher, dass ich mich an einer ausländischen Uni zurechtfinden würde“, sagt Lidija. Vor allem möchte sie ein anderes Bildungssystem kennenlernen, denn das serbische sei veraltet, aufs Auswendiglernen ausgerichtet und biete keine Kommunikation zwischen Studenten und Professoren.

Doch immer wieder lässt sich Lidija von der komplizierten Prozedur einschüchtern. Hat man sich nämlich eine Uni, eine Studienrichtung im Ausland ausgesucht, muss man zunächst die Konsularbeamten des jeweiligen Landes überzeugen, einem ein Visum zu erteilen. Dieses erhält man jedoch nicht, solange man keine Bestätigung über die Immatrikulation vorlegen kann. „Aber wie soll ich die bekommen, wenn ich das Land nicht verlassen kann?“, fragt Lidija. Vieles lässt sich über das Internet erledigen, aber nicht alles, und außerdem möchte man sich die Uni vielleicht mal ansehen, an der man studieren will. „Die Konsularbeamten fragen dann immer, warum ich nach Deutschland oder Holland gehen möchte, was ich dort vorhätte, ob ich jemanden kenne, wie viel Geld ich habe?“, sagt sie. „Als ob ich mit fünfundzwanzig einen Grund haben muss, um zu verreisen.“

„Die sehen uns an, als ob wir ihnen etwas wegnehmen möchten“, beklagt sich Lidija. „Die jungen Leute, die es schaffen wegzugehen, sind Ausnahmen. Ich habe das Gefühl, das System aller EU-Staaten ist so ausgerichtet, Menschen aus dem Osten Europas die Einreise möglichst schwer zu machen.“ Seit Jahren versprechen serbische Politiker, dass Serbien „schon bald“ auf die weiße Schengenliste kommt – was zumindest visafreies Reisen durch den EU-Raum ermöglichen würde. Auch Erweiterungskommissar Olli Rehn hat es mehrmals erwähnt, passiert ist aber noch nichts.

Nach wie vor stehen junge Leute in Serbien vor einer großen bürokratischen Mauer, die die ihnen nichts anderes besagt, als dass sie europäische Bürger zweiten Grades sind. „Irgendwann beginnt man das auch zu glauben“, sagt Lidija. Die junge Frau hat ihr Examen an der Belgrader Uni absolviert, lebt weiterhin bei ihren Eltern, weil sie keinen festen Job hat, und selbst wenn sie einen hätte, könnte sie sich mit einem serbischen Durchschnittseinkommen von zirka 300 Euro nicht selbstständig machen – die Preise in Serbien haben größtenteils westliches Niveau. Um sich nicht hängen zu lassen, gibt sie Englischunterricht, ist in einem Amateurtheater tätig und geht ein- bis zweimal die Woche mit Freunden aus. „Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, im Ausland das Studium fortzusetzen“, sagt Lidija. Doch sie sieht: Zwischen den Bürgern Serbiens und der EU steht die Bürokratie, die wie Stacheldraht ist; man kann ihn nicht überspringen, man kann ihn nicht umgehen, man muss ein Loch finden, um auf die andere Seite zu gelangen.

Rausgekommen

Neben der scheuen, stillen Lidija sitzt Ana. Sie redet laut und selbstsicher, ist auffallend extravagant gekleidet, genießt die Aufmerksamkeit des Fotografen. „Ich wollte schon immer weg aus dieser vergifteten Gesellschaft“, sagt sie. Seit der Schulzeit hat sie alles in Serbien irritiert: die paranoiden Politiker, die xenophobe Politik, die orthodoxe Kirche, die sich in alles einmischt, die Kriminellen, die zu Volkshelden stilisiert werden, die Kriegsprofiteure, die ungestraft davongekommen sind, das Schulsystem, das „richtig Scheiße ist“, wie sie sagt. Schon als Teenagerin hat Ana versucht wegzukommen, bewarb sich für Stipendien im Ausland. „Mit einer Gesellschaft, in der die einzigen Werte bei Jugendlichen materielle sind – nämlich einen Jeep und Knete zu haben –, konnte ich mich nicht identifizieren“, sagt Ana. Dass sie nun in London gelandet ist, war eher Zufall.

„Die Konsularbeamten fragen immer, warum ich nach Deutschland gehen möchte. Als ob ich mit 25 einen Grund haben müsste zu verreisen“ LIDIJA MILIC

Ihr Freund hat dort seine Dissertation gemacht und einen Job als Ingenieur für Elektronik und Telekommunikation in der Dresdner Bank gefunden. Deswegen legte sie ihr Studium in Belgrad von vornherein auf einen möglichen Auslandsaufenthalt an: Sie achtet darauf, einen ausgezeichneten Notendurchschnitt zu haben, belegt „parallele Diplomstudien“ in der von der Friedrich-Ebert-Stiftung finanzierten „Belgrader Offenen Schule“ für ausgezeichnete Studenten, an der nur wenige Studenten einen Platz bekommen. Ein Stipendium erhielt sie nicht. Aber über die BOS erfährt sie von der University College London, wo man Politics Security Integration studieren kann. Obwohl sie fließend Englisch spricht, muss sie zunächst im Belgrader British Council einen Sprachkurs für 150 Euro absolvieren. Dann schickt sie eine Bewerbung nach London und wird aufgrund ihres Notendurchschnitts und ihrer Sprachkenntnisse prompt aufgenommen. Voraussetzung: Sie kann 13.000 englische Pfund für das Studium hinlegen sowie 25.000 Pfund auf einem Konto einer englischen Bank für das Visum vorweisen. „Woher ich das Geld hatte, fragte mich niemand“, erzählt Ana. Sie hatte es, rein zufällig, weil die Mutter ihres Freundes gerade die Wohnung seiner verstorbenen Großmutter in Belgrad verkauft, ihr Freund ein Teil des Geldes kassiert hat und sich bereit zeigte, es vorübergehend auf Anas Konto zu deponieren. Zusätzlich muss sie nachweisen, dass ihre Eltern eine Eigentumswohnung in Belgrad besitzen. „Wäre die Großmutter meines Freundes nicht gestorben und hätte er dort keinen guten Job gefunden, würde ich vermutlich immer noch in Belgrad stecken“, sagt Ana. Und sich mit Jobs durchschlagen wie Lidija. Oder rumhängen wie früher ihr Bruder.

Anas zwanzigjähriger Bruder Vladimir hing Tag ein, Tag aus mit seinen Freunden in einem Stammcafé herum, ging Nationalisten auf den Leim und hörte jaulende Volksmusik. Wie viele andere lernte er nichts, tat nichts. Doch als talentierter Segler nahm er an einigen Regatten in Italien und Frankreich teil. „Nachdem er einmal etwas anderes erlebt hat, veränderte das sein Leben“, erzählt Ana. Er büffelte und beendete einen internationalen Kurs für Skipper. „Wenn die EU Serbien helfen möchte, sollte sie ihre Türen öffnen“, sagt Ana. „Wie können junge Menschen überhaupt Schlüsse ziehen, wenn sie keine Möglichkeit des Vergleichs haben?“

Über das Leben in London hegt Ana keine Illusionen. Natürlich „pinkeln auch dort Menschen auf die Straße“, und der Existenzkampf ist hart, doch sie weiß die Werte einer bürgerlichen Gesellschaft und ein funktionierendes Staatssystem zu schätzen. Parallel zu ihrem Studium verkauft sie zwei Tage pro Woche Butterbrote und bekommt dafür 500 Pfund. Sie spricht Serbisch, Englisch, Französisch, Russisch und Ukrainisch. „Ich bin sicher, dass ich nach meinem Studium einen Job in einer internationalen Organisation finden werde“, sagt Ana. Jedenfalls hat sie Chancen auf eine erfolgreiche berufliche Laufbahn. Im Gegensatz zu Lidija, die wie gebannt auf die Hürden der EU-Bürokratie starrt.