Die Kommunion meines Cousins

In dieser und den folgenden drei Ausgaben des taz.mag veröffentlichen wir die Siegergeschichten aus Wladimir Kaminers Schüler-Schreibwettbewerb „Kaminer sucht den Superautor“. Das Thema: Heimat

von JEREMIAS HEPPELER

Dort, wo ich zu Hause bin, am Rande der Schwäbischen Alb, gibt es nichts Schöneres als die großen kirchlichen Feste, die ein katholisches Leben so begleiten. Es erfüllt die Familie mit Stolz und Zufriedenheit, wenn ein Clanmitglied Kommunion, Firmung, Hochzeit oder Beerdigung hat. Und so war es auch bei meinem kleinen Cousin Alex, als er in diesem Jahr seinen Weißen Sonntag feierte. Schon Wochen vorher macht sich in den Familien der Kommunionskinder und deren Verwandtschaft, also flächendeckend im Ort, eine merkwürdige, fast beängstigende Euphorie breit. Ein Zustand wie in L. A. kurz vor der Oscar-Verleihung. Wer trägt was, und wer kommt mit wem? Eigentlich kommen immer alle wie immer, aber gut.

Zwei Gerüchte hielten den Ort in Atem. Ein Mädchen trete mit Elternteilen an, so hieß es, die beide weiblich und somit lesbisch seien. Das ließ die alten Weiber Blut schwitzend zu Gott beten. Doch damit nicht genug, denn Gerücht zwei schlug ein wie Thors Hammer: Die Mutter eines Kommunikanten hatte keine Gelegenheit ausgelassen, um publik zu machen, ihr Sohn werde seine erste geweihte Oblate nicht im dafür üblichen Janker einnehmen, sondern in einer braunen Lederjacke. Damit werde ihr Sohn wohl zum Stadtgespräch und sie, aber das sei ihr egal, für verrückt erklärt und als Hexe beschimpft werden. Die Gerüchte machten mich glücklich. Sie steigerten meine Vorfreude auf die Kommunion von null auf hundert.

Doch als der große Tag gekommen war, verfluchte ich ihn schon in seinen ersten Minuten. Meine Mutter weckte mich punkt sechs Uhr mit den laut vorgetragenen Worten: „Schneller, wir sind eh schon wieder viel zu spät dran!“ One moment, please. Es war sechs Uhr früh, und wir waren zu spät dran? Die Kirche beginnt um halb neun, in Worten: acht Uhr dreißig. „Wir müssen gute Plätze sichern!“, sagte sie. „Und wer motzt als Erster rum, wenn er drei Stunden stehen muss?“ Another moment, please. DREI STUNDEN KIRCHE? Ich duschte zu „Highway to Hell“.

Das Gotteshaus hielt weitere Enttäuschungen parat. 1.: Stehplatz. 2.: Der Hexensohn wartete mit einer furznormalen, grauen Cordjacke auf. Mein Vater zupfte mich in regelmäßigen Abständen an der Jacke und wollte flüsternd wissen, wo Der Stadtgespräch sei. Er sagte Der Stadtgespräch und meinte damit eben jenen Kommunikanten, der, ginge es nach seiner Mutter, das Bekleidungsverhalten eines ganzen Dorfes aufmischen sollte. Obwohl ich ihm Standort und Aussehen jedes Mal präzise beschrieb, blieb mein Vater beständig bei: „Hä? Wer? Wo?“ Sollte heißen: Der Stadtgespräch hebt sich nicht einmal von der Deko des Chorraumes ab.

Von den folgenden Stunden weiß ich leider nichts weiter zu berichten, da mich der Weihrauch und die monotone Stimme unseres Pfarrers andächtig wegbeamte. Mein Onkel weckte mich aus der süßen Entrückung, weil er sich, nun schon wieder vor der Kirche, mordsaufregen musste. Der männliche Part des lesbischen Paares trug den gleichen Anzug wie er. Im Gegensatz zu ihm war ihr aber die Hose nicht zu kurz.

Dann war es Zeit für ein Gruppenbild aller Kommunionskinder vor der Kirche. Und da standen die Jungen und Mädchen, in Reih und Glied aufgestellt von mehreren Helfern, etwas ängstlich lächelnd, ihre Kommunionskerzen steif in der Hand haltend, in den nur für diesen Tag gekauften Minihochzeitskleidern und in ihren Jankern und einem lederjackenangehauchten Cordkittel, umringt von Hunderten stolzer Väter, Mütter, Onkel, Schwäger, Geschwister, Omas, Opas, vielen Schaulustigen und mir.

So standen sie alle da. Alle außer einem: meinem Cousin Alex. Der war einem Lachanfall nahe und stellte mit seiner Kommunionskerze ein übergroßes männliches Geschlechtsteil dar, indem er sie an die richtige Stelle hielt. Mit wilden Gesten machte er mich auf diese gelungene Idee aufmerksam. Meine Oma hieb mir die Handtasche in die Nieren und behauptete: „Den Quatsch hat er nur von dir!“ Ich sagte ihr, sie solle bloß ruhig sein, und zeigte auf die Schuhe meines Opas. Es waren jene hellblauen, dezent mit orangefarbenen Blumen verzierten Wildlederhalbschuhe, die sich meine Oma extra für den heutigen Tag zugelegt hatte und die seit Tagen spurlos verschwunden waren.

Anschließend machten wir uns auf, um in einem Restaurant zu Mittag zu essen, das auf einem der Albhochfläche vorgelagerten Felsen liegt. Der Felsen trägt den Namen Wagnerfels, weil sich hier vor Jahrhunderten ein Wagner aus dem nahe gelegenen Heimatort meines Vaters nachts zu Tode stürzte. Auf der Autofahrt dahin erzählte mir Alex, er habe von den Omas viel zu wenig Kohle bekommen. Da müsse er sich etwas einfallen lassen, er denke an Erpressung, aber bis dahin spiele er beleidigt.

Wir gehen bei solchen Festen übrigens immer in dieses Restaurant, denn dort isst man gut und muss das Essen nicht bezahlen. Das heißt, Normalsterbliche müssen das Essen schon bezahlen, wir aber nicht. Mein Opa hat mit dem Wirt einen Deal aus Vorkriegszeiten laufen: Der Wirt hat Schulden, und die essen wir mittels Familienfesten systematisch bei ihm ab. Wir werden immer außerordentlich gut bedient. In diesem Falle von einer wirklich netten Bedienung um die vierzig. Und ebendiese gab meinen weiblichen Verwandten Stoff für ein erstes intensives Tischgespräch. Allerdings nicht über ihr sympathisches Auftreten, sondern über die schuppigen Rötungen in ihrem Gesicht und am Hals. Dann wurde die Themenpalette erweitert: Eine Frau auf dem Kirchplatz habe einen Anzug angehabt wie ein Mann. Und prima ausgesehen. Besser als mancher Kerl. Mein Onkel bekam einen roten Kopf und unterhielt sich mit seinem gemischten Braten.

Wir Männer widmeten uns währenddessen unseren Lieblingsthemen: Handball und unsere Erzfeinde aus dem Heimatort meines Vaters. Dazu muss man wissen, dass Handball bei uns im Ort eine richtig große Nummer ist, während die anderen da noch nie etwas zustande gebracht haben. „Blindgänger, immer schon!“, begann mein Opa das Gespräch, das ansonsten verlief, wie es begann. Mein Vater beteiligte sich nicht. Er schaute aus dem Fenster und ließ seine Blicke melancholisch über den Wagnerfelsen streifen. Er dachte wohl an seinen Vorfahren …

Ansonsten verlief das Mittagessen ohne Zwischenfälle. Ab und an durchschnitt ein Aufschrei die Geräuschkulisse des Lokals: „Der Schröder und die Grünen!“ Das war mein Opa, der in seiner eigentlichen Berufung Dauerpolitologe ist. Doch selbst die Jüngsten unserer Familie schalten längst auf Durchzug, wenn sie das Wort Politik aus seinem Munde hören.

Einzig der Kommunikant persönlich sorgte für Aufregung, da er sich dazu entschlossen hatte, sich ausschließlich flüssig zu ernähren. Darauf wurde er heftig von seiner Mutter, seiner Tante, seinen Omas und seinem Opa zurechtgewiesen. Alex’ Mutter unterbrach den Streik ihres Sohnes: „Wenn du jetzt wieder so viel trinkst, musst du nachher in der Kirche wieder urinieren!“

One little moment, please! NOCHMAL KIRCHE? DAS DARF NICHT SEIN! Doch dann dachte ich daran, dass ich die letzte Messe mit meinem Schläfchen so schlecht gar nicht verbracht hatte. Ich wurde sehr ruhig, widmete mich meinem Essen und regte mich vor lauter innerer Ruhe nicht mal darüber auf, dass noch ein stinklangweiliger Verdauungsspaziergang angesetzt war. Auf diesem wollte mein anderer Cousin, Daniel, unbedingt seine neue Hightech-Digitalkamera ausprobieren und musste deshalb schlagartig das Mittagsmahl abbrechen, um die Kamera den Wetterbedingungen anzupassen.

Wir waren schon ein nettes Stück über die offene Albfläche gewandert, da kreuzte die sicher größte Schafherde Deutschlands unseren Weg. Meine Mutter erfasste rasende Panik. Die anderen ließen die Schafe halt vorbeiziehen. Mein Onkel stellte sich sogar mitten in die Herde; er konnte einen Bock am Stummelschwänzchen erwischen und uns für einen Augenblick triumphierend zuwinken. Dann rammte ihm der Bock mit voller Wucht die Hörner in den Bauch. Nach kurzem, tänzelndem Straucheln versank der Onkel unter der Oberfläche des blökenden Wollmeeres. Als die Schafe vorbeigezogen waren und meinen Onkel freigegeben hatten, zeigte sich der Weg mit Kot gepflastert. Wir wanderten zurück und nahmen kollektiv einen warmen Stallgeruch an. Der Onkel schimpfte in einem fort und nannte den Schafsbock, der ihm wehgetan hatte, entgegen allem biologischen Wissen eine Drecksau.

Auf dem Rückweg kam es noch zu einem Stockkampf zwischen mir und Alex, der auf dessen ausdrücklichen Wunsch so richtig hart geführt wurde und ihm einige großflächige Verschmutzungen einbrachte. Als Rache gab er seinem älteren Bruder Daniel eine mit, weil er sich gegen mich nicht mehr traute – und der traute sich nicht zurückzuhauen, weil er die Kamera in der Hand hielt.

Als wir wieder im Lokal ankamen, hatte an unserer Tafel ein Männlein Platz genommen, das ich wegen seines Unterhaltungswertes schon erwartet hatte. Eigentlich weiß ich nicht einmal, wie er mit uns verwandt ist. Während die Allgemeinheit ihn als Pullover-Karle kennt, pflegt er sich selbst als „blutroter Rebell gegen die Obrigkeit“ vorzustellen, was immer er damit meint. Jedenfalls drückt er seine Haltung mit einem strengen Junggesellendasein, einem Topfhaarschnitt mit Vollbart und einem Dauergewicht von 48 Kilo aus. Nach zwei Bier verwandelt sich seine Stimme, als sei ihm ein Megafon vor dem Mund gewachsen. Er tönte uns entgegen (das Weizenbier vor ihm musste etwa sein drittes sein), er komme, wann er wolle, und nicht, wenn es dem Pfarrer gefalle. Interessierte aber keinen. Es galt einzig, möglichst viele politisch Neutrale zwischen ihn und meinen Opa zu platzieren. Und nun kam die Vesper.

Wir taten uns an Lachs und Schwarzwurst gütlich, nur Alex verlegte sich wieder auf flüssig. Als alle sich bedienten, schrie der Pulloverrebell, er habe solches Lumpenzeug nicht nötig, und kramte eine gelbe, eingeschweißte Masse hervor. Das sei der gesündeste und billigste Käse, den man kaufen könne, bei Aldi. „Bergkäse!“ Dazu schwang er den Käse hoch über der Topffrisur, als habe er ihn unter Einsatz seines Lebens auf einer Alm erbeutet. Danach nahm er ihn unter Weglassung von Essbesteck zu sich.

Niemand konnte sich erklären, wie, aber meinem Opa war es gelungen, an den Stammtisch zu entwischen. Er habe Beweise, schrie er. Ich wusste natürlich genau, was er meinte. Kanzler „Taugenichts“ Schröder lasse seine Mutter von der Sozialhilfe aushalten. Der ins Feld geführte Beweis war ein Artikel aus der Bild-Zeitung, den er seit Jahren aufbewahrt und den noch nie ein Mensch gesehen hat. Er winkte mich wild zu sich und schrie, ich solle mit dem Auto nach Hause fahren und den Artikel holen, und zwar jetzt. „Ich bin fünfzehn!“, entgegnete ich. „Fünfzehn?“, brüllte er zurück. Er könne mir sagen, was ich sei, nämlich auch so ein grüner Hund wie mein Vater. Und dann mussten wir zurück in die Kirche.

Alle waren wieder da. Anders als mein Onkel brachte die Mannfrau ihren Anzug ohne Hinweise auf den Mittagstisch und den Verdauungsspaziergang zurück. Nur Der Stadtgespräch konnte nicht einmal ich noch auffinden. Ich lehnte mich gegen die Orgeltreppe, und da ich mir Daniels Kamera geschnappt hatte, konnte ich in aller Ruhe dessen Fotoausbeute auswerten. 250 Bilder: 42-mal Schafe, 74-mal Schafscheiße, sechsmal blauer Himmel, 17-mal tote Maus, einmal Onkel stehend mit Schafsherde, einmal Onkel liegend, im Hintergrund eine Schafsherde, und dazu noch 109-mal pinkelnde Oma (mit dem Schnellfeuermodus geschossen). Ich werde Daniel für seinen Blick für das Alltägliche loben, dachte ich, aber dann nahm mich unser Pfarrer schon wieder mit auf eine wunderbar entspannte Reise.

Nachbemerkung: Mit der Kommunion meines Cousins Alex haben wir die größten Familienfeste innerhalb unserer Verwandtschaft abgefeiert. Wir müssen uns etwas Neues einfallen lassen, um den Handel meines Opas mit dem Wirt vollends auszuschöpfen. Daher rief mein Opa am Ende des Tages aus, jetzt müsse halt der dreckige Kommunist mal ran und heiraten. Pullover-Karle jagte daraufhin viele unanständige Worte durchs Megafon, aber ich weiß, der alte Herr meinte mich.

JEREMIAS HEPPELER, 15, lebt in Fridingen. Der Wettbewerb wird bis zum 31. Januar 2005 verlängert. Infos unter www.russendisko.de