Mary die Weihnachtsgans (5)

Letzte Folge des kleinen taz-Fortsetzungsromans zwischen den Jahren. Von Tim Ingold

Was bisher geschah: Die Gans Mary überlebt Weihnachten, das harte Leben auf der Straße, einen Abend mit Schlagerkomponist Ralph Siegel sowie eine Wohngemeinschaft mit islamistischen Terroristen.

Die Zeit zwischen den Jahren, eine furchtbare Zeit. Das Fest ist gefeiert, der Schädel brummt und die weihnachtliche Völlerei belastet gleichermaßen Gewissen wie Verdauungstrakt. Das alte Jahr schleppt sich saft- und kraftlos dahin und bettelt um den Gnadenschuss in Form von Silvesterböllern. Die Gedanken sind unstet und sprunghaft, der Blick zurück langweilt und der Blick nach vorn bereitet Angst. Man hängt in der Luft, in einem Niemandsland, in einer Unzeit, und man wünscht sich, das neue Jahr hätte bereits begonnen, die guten Vorsätze seien bereits verworfen und alles ginge wieder seinen gewohnten Gang. In einem solchen Zustand kommt man auf die seltsamsten Ideen.

Mein Geldbeutel war leer, mein Herz war es auch. Ich saß da und betrachtete meine Zimmerpflanzen. Sie hatten nun schon einige Jahre durchgehalten, und ich dachte verwundert, dass ich doch wider Erwarten zu Fürsorge und Empathie fähig sei. Vielleicht war die Zeit für einen neuen großen Schritt gekommen? Ein anderes Lebewesen, warm und empfindsam, war das, was in meinem Leben fehlte. Nun war ich glücklicherweise nicht wahnsinnig genug, um mich gleich in eine Beziehung mit einer Frau stürzen zu wollen. Nein, mein Ansinnen war bescheidener und vernünftiger: Ein Haustier musste her! Ich zog mir die Jacke an und machte mich auf den Weg zum Tierheim neben der Müllverbrennungsanlage (ob da ein Zusammenhang …).

Mary war wurzellos, heimatlos, ziellos, obdachlos und arbeitslos gewesen, doch das sollte sich ihrem Willen nach zukünftig ändern. Ihr Plan war genial, aber nicht ganz einfach umzusetzen. Sie hatte vor, ein Hund zu werden. Gänse, hatte sie überlegt, werden hierzulande verspeist. Hunde zwar auch, aber nur von Chinesen oder nichts ahnenden Döner-Konsumenten. In der Regel jedoch werden Hunde in dieser Gesellschaft besser als Kinder behandelt, werden gefüttert, umsorgt und gestreichelt, dürfen ins Bett kommen, herumtollen und in Würde altern. Es gab in diesem Land definitiv keinen besseren Job als Hund sein.

Und wo konnte man besser Hund sein als in Bremen? In dieser sympathischen grünen Stadt, in dieser liberalen Enklave, diesem gallischen Dorf mit einer langen Tradition des Tierasyls? Mary war sich sicher: Sie wollte ein Hund in Bremen sein. Bereits im Boot übte sie eifrig das Hecheln, das Bellen, das Sabbern und das Schwanzwedeln. Sie wollte ein so guter Hund werden, dass sie jeden Lassie-Impersonation-Contest haushoch gewonnen hätte. Sie würde sich ins Tierheim einschleusen, ihre Hundenummer abziehen und sich von einer liebevollen und am besten kurzsichtigen alten Dame adoptieren lassen.

Mary ging irgendwo zwischen Bensersiel und Neuharlingersiel an Land und erreichte nach einem Gewalt-Gänsemarsch voller Hundeimitationen Bremen. Es war mitten in der Nacht und das Tierheim lag dunkel und still da. Nur selten jaulte ein unglücklicher Hund oder miaute kläglich eine verstoßene Katze. Mary flatterte über den Zaun, schlich sich zu den Hundezwingern, fand einen leeren Zwinger und öffnete das Schloss mit einem Stück Draht. Sie zog die Tür hinter sich zu, legte sich hin und schlief vollkommen erschöpft ein.

Am nächsten Tag stand ich vor ihrem Zwinger. Obgleich sie all ihr schauspielerisches Talent bemühte, erkannte ich natürlich sofort, dass sie kein Hund war. Die Tierpflegerin war sehr verdutzt und konnte sich ums Verrecken nicht erklären, wie die Gans in den Zwinger gekommen war. Mir war es egal. Ich hatte mich augenblicklich in Mary verliebt und nahm sie mit nach Hause. Bei Tee und Schokokeksen erzählte sie mir dann die Geschichte ihrer Irrfahrt. Und ich zweifle nicht daran, dass jedes einzelne Wort davon wahr ist.

Während ich jetzt, spätabends, diese Zeilen in den Computer tippe, liegt Mary neben mir auf ihrem Lieblingskissen. Sie hat ihren Kopf unter einen Flügel gesteckt und schläft friedlich. Mein Blick ruht liebevoll auf meiner kleinen Hundgans. Mein Herz ist lebendig und ich sehe dem neuen Jahr voller Zuversicht entgegen. Im Hintergrund läuft leise das Radio. Ralph Siegel hat mittlerweile mit Nina Ruge eine Single produziert, und der Refrain geht so: „Alles wird gut / Schließe deine Augen / Alles wird gut / Wir müssen nur dran glauben / Wir müssen nur dran glauben, yeah.“

Tim Ingold, Jahrgang 1974, lebt als freier Autor, Musiker und Journalist in Bremen. Als Vegetarier isst er keine Gänse.