„Hier ist Russland!“

Vor dem ESC-Finale geht die Polizei hart gegen Homosexuelle vor. Ein Augenzeugenbericht

MOSKAU | Samstagmorgen, wenige Stunden vor dem Finale des Eurovision Song Contest (ESC). Die Twerkaja, eine der wichtigsten Avenuen der russischen Hauptstadt, ist fast lückenlos gesäumt von Uniformierten. Männer der schlägernden Miliz und der Polizei stehen parat. Am Tag des ESC haben Moskowiter Bürgerrechtler um den Aktivisten Nikolai Alexejew zur Christopher-Street-Parade gerufen. Die Demonstration wurde allerdings schon vor einer Woche von Bürgermeister Juri Luschkow verboten. Homosexuelle seien krank und verdienten keine Öffentlichkeit, ohnedies sei der ESC eine Art U-Boot, das Satanisches in seine Stadt brächte, deshalb müsse diese Aktion verboten werden.

Zur Mittagszeit, beim Spaziergang zum Nowopuschkin Skwer, wo die Parade dennoch stattfinden soll, hört man auf dem zehnminütigen Weg dorthin bereits Ambulanzwagen.

Der Kreml ist, so heißt es aus Bürgermeister Luschkows Umfeld, weiträumig abgesperrt worden, das dort angesiedelte Luxuskaufhaus GUM muss seine Türen geschlossen halten. Niemand wolle sich vorstellen, wie es wäre, würden Homosexuelle und andere, so die offizielle Lesart „Kranke und Verirrte“, den Roten Platz betreten, er wäre, so wird gesagt, „für immer entehrt“.

Der Platz Nowopuschkin Skwers war nun eine einzige Bedrohungshölle. Auf den Parkbänken, an Kreuzungsecken, an den eigens für diese vermeintliche Monsterparade errichteten Sperrungen, von der Klerikale im Vorfeld schrieben, sie bedrohe Russlands ohnehin schon geschundene Seele, zittert es vor Bedrohlichkeit. Man sieht vier Gefangenentransporter, in die binnen wenigen Minuten mehrere Männer und eine Frau im Griff von Milizen verfrachtet werden. Insgesamt nimmt die Polizei 40 Menschen in Gewahrsam. „Wir sind friedliche Menschen und wollen so leben wie andere auch“, ruft eine Frau bei ihrer Festnahme. Einige Festgenommene sprechen von einer „ziemlich brutalen“ Polizeitaktik.

Mich brüllt ein Führungsoffizier plötzlich auf Deutsch an: „Geh weiter, hier ist Russland!“ Wir gehen in leichter Panik. Wenn in Deutschland die Anwesenheit von Sicherheitsleuten dafür Sorge trägt, dass wenigstens demonstriert werden kann, scheint es in Moskau darum zu gehen, als Sicherheitsapparat jede Bürgerrechtlichkeit im Keim zu ersticken.

Hinter einem Sicherheitswagen wird eine jungen Frau von sechs Milizionären umringt, einer reißt ihr den Regenbogenbutton von der Bluse, wirft ihn zu Boden und beginnt, auf ihn zu treten. Sie, sehr cool, leicht zitternd, will sich bücken und ihn, zerbeult, bergen, aber die fünf anderen ziehen sie zurück und treten selbst auf den Metallknopf. Hinter ihnen stehen Männer und Frauen einer „Bürgerwehr“. Sie wollen sie verprügeln und rufen: „Gebt sie uns, wir zeigen ihr den rechten Weg“, aber die Sicherheitsbeamten nehmen sie mit und führen sie zum Eingang der nächsten Metrostation.

Moskaus Bürgermeister Luschkow erklärte am Samstag nach der zerschlagenen Parade, es sei ein Erfolg für Russland, dass russlandfremde Elemente nicht die Stadt für ihre Zwecke missbraucht haben. Moskau, das steht fest, kann auf diese Weise jedoch niemals Teil eines zivilisierten Europas sein. JAN FEDDERSEN