Barbara Bollwahn über Rotkäppchen
: Die letzte Rothaut im Reservat

136.000 Wohnungen sollen in Sachsen abgerissen werden. Als abgerissene Studentin lebte ich in einer davon

Auf der Suche nach Arbeit und ein bisschen Lebensfreude gehen meine Brüder und Schwestern nach wie vor in den goldenen Westen. Zurück bleiben ihre leeren Wohnungen. Damit ihre enttäuschten Hoffnungen nicht zu moosbewachsenen Mahnmalen werden, sollen in den nächsten vier Jahren 360.000 Wohnungen im Osten abgerissen werden. Niemand stellt sich der Abrissbirne entgegen. Nur ich werde ganz nostalgisch.

Mitte der 80er-Jahre wohnte ich in der Kohlgartenstraße in Leipzig. Das alte Haus und mit ihm eine ganze Reihe anderer Häuser sollten einem Neubaugebiet weichen, um das Wohnungsbauprogramm der Partei zu erfüllen. Dazu mussten die Mieter aber erstmal raus und mit neuem Wohnraum versorgt werden. Sicherheit wurde damals ja ganz groß geschrieben. Niemand sollte auf der Straße landen. Vorausgesetzt, man hatte sich an die Spielregeln gehalten.

Ich aber hatte mich nicht an die Spielregeln gehalten. Ich hatte mich in einer Wohnung eingenistet, die mir nicht zustand. Als alleinstehende Studentin hatte ich nur Anspruch auf ein Bett in einem Studentenwohnheim. Doch ich wollte eine eigene Bude, und das gleich im ersten Semester. Da traf es sich gut, dass ein Freund heiratete und zu seiner Freundin zog. Statt die Wohnungsverwaltung zu informieren, informierte er mich. Er ließ seinen Vertrag weiterlaufen, ich zog ein und zahlte die Miete.

Gut zwei Jahre lang ging das gut. Bis eines Tages eine Mitarbeiterin der Wohnungsverwaltung kam, um die Mieter über den geplanten Abriss in Kenntnis zu setzen und ihnen andere Wohnungen anzubieten. Ich blöde Kuh dachte, dass die Hausverwaltung gemerkt hatte, dass die Miete seit geraumer Zeit von einem anderen Konto abgebucht wurde, und begrüßte die Trulla mit einem folgenschweren Satz: „Wie Sie ja wissen, läuft der Vertrag nicht auf meinen Namen. Aber ich habe ja die ganze Zeit Miete gezahlt.“ Kaum hatte die Frau den Satz vernommen, stopfte sie den schon für mich vorbereiteten Mietvertrag wieder in ihre Tasche und ging. In den nächsten Wochen zogen alle anderen Mieter aus, bis ich schließlich als Letzte zurückblieb. Barbara allein zu Haus.

Am Anfang fand ich das toll. Ich konnte tierisch laut Musik machen und die Tür der Außentoilette beim Pinkeln sperrangelweit offen lassen. Doch bald wurde es mir unheimlich. Aufgrund der recht schlechten Versorgungslage tauchten immer wieder dunkle Gestalten auf, um sich zu holen, was nicht niet- und nagelfest war. Das geschnitzte Treppengeländer, Wasch- und Klobecken, Kachelöfen.

Irgendwann hatte ich Angst, dass mir die Klobrille unterm Arsch geklaut wird, und ich zog mit einigen wenigen Habseligkeiten zu einer Freundin. Einmal in der Woche schaute ich in dem verlassenen Haus nach dem Rechten. Bei einem Kontrollgang fand ich mein Klavier auf dem Flur vor meiner Wohnung im dritten Stock, das Unbekannte aus dem Wohnzimmer geschleppt hatten. Die Wohnungstür war aufgebrochen und diverse Möbel fehlten. Die sozialistische Moral hatte nicht vor meiner Wohnungstür Halt gemacht.

Als die Abrissbagger kamen, wollte ich mit meiner Kamera das Verschwinden meiner Wohnung dokumentieren. Kaum hatte ich die ersten Bilder gemacht, kam ein Mann auf mich zugestürzt. „Was machen Sie da?“, herrschte er mich an. „Das sehen Sie doch. Ich fotografiere.“

Er fuchtelte energisch mit den Armen herum. „Das ist verboten!“ Ich stemmte die Arme in die Hüften. „Ich habe in dem Haus gewohnt!“ Ich weiß nicht mehr, wie der Disput endete. Auf jeden Fall habe ich noch heute die Fotos von dem Abriss, die aussehen, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Wenige Monate später ragten uniformierte Betonblöcke in den Himmel.

Es kann gut sein, dass sie zu den 136.000 Wohnungen gehören, die in Sachsen abgerissen werden sollen. Das würde bedeuten, dass ich völlig umsonst das Feld räumen musste! Aber dann hätte ich nicht die Genugtuung gehabt, die Wohnungsverwaltung mit einer Eingabe an Herrn Honecker dazu zu bringen, mich mit Wohnraum zu versorgen.

Fragen zum Wohnraum?kolumne@taz.deMorgen: Kirsten Fuchs über KLEIDER