Allein unter Fischen

Mit kleinen Guppys hat alles begonnen. Inzwischen besitzt Wolfgang Groß unzählige Arten: darunter Doktorfische, Nashornfische und Mördermuscheln. Aber tauchen gehen könnte der Kreuzberger nie

Grimmige Barsche schleichen zwischen Korallen, Tentakel fingern herum

VON HANS W. KORFMANN

Es fing an mit den Guppys. Diesen kleinen, ständig trächtigen Weibchen, die in den deutschen Wohnzimmern der 70er-Jahre millionenfach neben dem Fernseher herumschwammen, und an denen die Kinder des Hauses schon bald das Interesse verloren. Wolfgang Groß verlor das Interesse an der kleinen Unterwasserwelt seiner Freundin nicht. Im Gegenteil. Wenn Wolfgang Groß heute von den Muscheln, Anemonen und Korallen erzählt, dann hört er sich an wie ein habilitierter Meeresbiologe. Und wenn er beginnt, etwas näher auf die Lebensgewohnheiten und die Eigenarten seiner Lieblinge einzugehen, dann zieht es den Zuhörer schnell vom bescheidenen Souterrain in der Möckernstraße aufs offene Meer hinaus. Land ist keines mehr in Sicht.

Es begann mit den Guppys. Ihre Vermehrungswut, das quirlige Leben unter Wasser faszinierten ihn. Die Guppys bekamen Gesellschaft von anderen Unterwasserwesen, bis dem angehenden Aquarianer auffiel, dass noch etwas Blau fehlte in seiner Population. Da stieß er auf den „Diskus“, einen platten, runden, bläulich schimmernden und ziemlich empfindsamen Bewohner des Amazonas. Ein außergewöhnlicher Fisch, denn er ist einer von nur dreien weltweit, der seinen Nachwuchs füttert, indem er die Jungfische an der nahrhaften Schleimschicht über seinen Schuppen schlecken lässt. Die ersten beiden Exemplare, die er von einem ominösen Händler kaufte, verabschiedeten sich schon nach wenigen Tagen wieder von ihrem neuen Besitzer. Was den blauen Diskus nur noch interessanter machte.

Wolfgang Groß beschloss, den „blauen Diskus“ selbst zu züchten. Was nicht einfach war. Aber Groß hatte Erfolg, und vor neun Jahren hängte er seinen Fleischerkittel endgültig an den Haken. Inzwischen hat sich die Kunde vom Kreuzberger Diskus bis nach Polen und in die Ukraine herumgesprochen.

Doch nicht alles ist blau bei Groß. Neben den Diskus schwimmen bunt geschminkte Doktorfische umher: „Sehen Sie die zwei kleinen Flügel? Da hinten, vor der Schwanzflosse. Die kann er ausfahren, wenn es bedrohlich wird. Scharf wie Skalpelle. Deshalb heißt er Doktorfisch.“

Zudem Kaninchenfische, ein paar Schwalbenschwänzchen, Nashornfische und seine „Xanthippe“, die eigentlich „Xanturum Zeprasoma“ heißt. Sie sieht aus, als könne sie kein Wässerchen trüben, schwimmt friedlich zwischen den Mitbewohnern umher. Doch der kleine Fisch mit dem grellgelben Schwanz sorgt immer wieder für Streit in der heilen Unterwasserwelt des Wolfgang Groß. Deshalb taufte er sie auf den Namen Xanthippe. Auch Kirby war so ein Unruhestifter. Benannt nach dem diesem Multifunktionsstaubsauger, denn auch Kirby schluckte alles. Bis er selber verschwand.

Der Fischhändler jedenfalls ist überzeugt: Die Fische kennen ihn. Sogar die große Mördermuschel. Fünf Jahre ist die „Tridacna Squamosa“ jetzt bei ihm, 150 Liter Wasser fließen am Tag durch sie hindurch. Ein natürlicher Filter. „Wenn ein Fremder mit der Hand nur in ihre Nähe kommt, macht sie dicht. Klappt zu. Aber ich kann sie streicheln, ich muss sie schon richtig ärgern, bis sie zumacht.“ Die riesige Klappe mit der schmetterlingsartigen, zitternden Membran davor und ihrem kleinen Mund darin – Eingang in die Unterwelt der Unterwelt – sieht nicht ungefährlich aus. „Aber den Namen Mördermuschel hat sie wirklich nicht verdient.“

Natürlich kann es passieren, dass ein Perlentaucher, der der „Tridagna Gigas“ zu nahe kommt, in die Falle gerät. Die größte der Mördermuscheln wird in freier Wildbahn immerhin bis zu 500 Kilo schwer und einen Meter lang. Aber sie ist kein Angreifer, sie verteidigt sich nur. Groß krabbelt die Muschel zum Abschied wie eine Katze im Nacken und geht weiter zum nächsten Becken, um eine grüne Anemone aus dem Wasser zu holen.

Augenblicklich zieht sie die langen Tentakel, die unter Wasser noch wie ein Gewusel unzähliger durchsichtiger, in alle Richtungen greifenden Arme waren, wieder ein. Anemonen haben nichts mit hübschen Blumen zu tun: Sie sind kleine Monstren, die in der verborgenen Welt unter Wasser gut aufgehoben sind. Anemonen erinnern an jene primitiven, zwittrigen Wesen, die, halb Tier, halb Pflanze, die fantastischen Geschichten Lovecrafts bevölkern – Geschichten, die Lesern noch heute den Schlaf rauben. Wolfgang Groß hält nichts von dem Wort „Monstrum“. Groß fasst seine Anemone mit der Hand und streicht vorsichtig über die kleine Kugel aus Saugnäpfen, die noch übrig geblieben ist von dem zappelnden Unterwasserbusch.

Natürlich, räumt der Aquarianer ein, gibt es auch giftige Anemonen. Sehr giftige sogar. „100 Gramm vom Nesselgift der Grünen Krustenanemone (zoanthus spec.) reichen aus, um ganz Kreuzberg zu vernichten. Aber sie nesseln nur, wenn sie in Gefahr sind. Wenn man ihnen zu nahe kommt. Und die meisten Gifte spüren wir sowieso nicht“, sagt Groß, setzt seine Anemone wieder an ihren Platz und geht zum Handwaschbecken. „Auf jeden Fall muss man sich diese Tentakel so vorstellen wie eine Raketenabschussbase. Mit einem Unterschied: Die Tentakel der Anemonen sind schneller. Ihr Abschuss ist die schnellste messbare Bewegung auf unserem Planeten“, sagt Groß und trocknet die Hände an einem Handtuch. Auch die Wirkung des Giftes der Grünen Krustenanemone ist rekordverdächtig. Es dauert nur Sekunden, bis das Herz stehen bleibt.

Der Besucher fühlt sich allmählich etwas unbehaglich: Überall fingern Tentakel herum, saugen die Membranen unersättlicher Muscheln, flattern die großen Trichter riesiger Unterwasserpilze, schleichen grimmige Barsche und mit Dolchen bewaffnete Doktorfische durchs Geäst der Korallen. Auch die hat Groß zu züchten begonnen. Sie sprießen aus leeren Blumentöpfen, die wie alte, von der Flora des Meeres überwachsene Amphoren auf den Böden der Bassins liegen. Manche sehen aus wie blühende Apfelbäume, andere haben nur wenige, blattlose Äste. „Aber auch die leben“, sagt Groß. „Jeder Punkt hier auf der Koralle ist ein Tier. Jeder Ast eine Kolonie, und das Ganze ist ein Tierstock. Wie ein Bienenstock. Eine Koralle leidet furchtbar darunter, wenn ein Stück von ihr abbricht!“

Wolfgang Groß liebt seine Unterwasserwelt und kommt jeden Tag. Die Fische brauchen ihn, „die kennen keinen Sonntag!“ Und auch keinen Urlaub. Die Diskus sind empfindlich, die Mördermuschel würde ihn vermissen, Xanthippe braucht seine strenge Hand. Deshalb war er schon lange nicht mehr am Meer. Und tauchen war er noch nie. „Ich glaube, wenn ich einmal abtauchte – ich käme nie zurück.“

Groß wäre sowieso am liebsten ein Anemonenfisch. „Für eine Nacht zumindest!“ Der Anemonenfisch ist der Einzige, den die Anemone an sich heranlässt. Er schläft friedlich zwischen den giftigsten Tentakeln, die ihn die ganze Nacht über freundlich kitzeln. „Das muss kuschelig sein“, sagt Wolfgang Groß und sieht plötzlich nicht mehr wie ein Professor, sondern tatsächlich ein wenig verträumt aus.

Er liebt die Tiere. Doch zu ihm nach Hause dürfen sie nicht mitkommen. Da hat er nur ein kleines 150-Liter-Becken. Mit den Guppys, mit denen alles begann. Aber nur Weibchen. „Irgendwann muss auch mal Schluss sein.“