Die Flut und wir

Die Flut hat auch jene Menschen erreicht, die nicht direkt von ihr betroffen worden sind. Wir, die Beobachter, suchen Wege, mit der Katastrophe umzugehen

Wir fühlen uns von der Flut gekränkt. Dieses Beben hat uns, hoch zivilisierte Stadtmenschen, für die Natur Spatzen und Zoobesuche sind, schmerzhaft erinnert, dass wir auf der Erde Unbehauste sind. Unser Normalbewusstsein, dass wir die Natur perfekt begradigt und damit auch entschärft haben, ist ein Trugschluss. Die Tiere und sogar manche Ureinwohner merkten offenbar etwas von der Gefahr, lange bevor sie mit den Sinnesorganen wahrzunehmen war. Sie flohen – während jene dummen, zivilisierten Touristen, die jeder von uns TV-Zuschauern hätte sein können, mit blöder Begeisterung durch die Sucher ihrer Videokameras auf das Meer blickten. Gerade die Naturferne, gerade das Zivilisierte, auf das wir uns so viel einbilden und das uns als Schutzhülle erscheint, war im Angesicht der Welle das Falsche. Schlangen und Elefanten spürten, was wir nicht begriffen. Das ist eine Kränkung. SR

Wir fühlen uns schuldig, wenn wir die Flut sehen. Warum schauen wir uns so unermüdlich Bilder von Zerstörung und Tod an? Offenbar weil wir uns so versichern, dass wir am Leben und in Sicherheit sind. Und unser Blick hat stets etwas Gieriges, Obszönes. Deshalb weckt dieser Blick Schuldgefühle. Eine Art (und zwar die hilfreichste Art), diese Schuld des Zuschauens loszuwerden, ist der Griff in den Geldbeutel. Wer spendet, tut etwas – schon damit befreit er sich aus der Ohnmachtsperspektive des TV-Zuschauers. Vor allem beteiligt sich, wer an einer Art säkularem Ablasshandel spendet. Beim Ablasshandel kaufte der Christenmensch sich von den begangenen Sünden frei. Beim Spenden kauft sich der TV-Zuschauer davon frei, dem Elend der anderen mit Gier zugesehen zu haben. SR

Wir suchen einen Schuldigen. Wir sind es gewohnt, die Welt als soziales Geflecht von Verantwortungen zu betrachten. Wenn eine technische Katastrophe geschieht, wenn ein Bürgerkrieg tobt, suchen wir nach dem Schuldigen. Den Täter zu kennen entlastet von dem, was wir im TV gesehen haben. Denn Gewaltbilder zeigen etwas Verdrängtes – wie verletzbar wir sind. Wenn wir einen Adressaten für unsere Empörung und fantasierte Verletzung dingfest machen, stellen wir damit die Normalität wieder her. Den Schuldigen zu kennen beruhigt. Bei den Bildern der Flutkatastrophe funktioniert dieses Schema nicht. Niemand ist schuld. Es ist ein asoziales Unglück. Wir können unsere Empörung nicht Sinn stiftend adressieren. Das irritiert.

Insofern war es symptomatisch, dass Bild, Experte für das kollektive Unbewusste, die Zumutung, sich über niemanden empören zu können, auf Seite eins beheben wollte. Dort sah man zwei dickbäuchige, wohl der Unterschicht zugehörige Urlauber, die am Strand lagen. „Und sie trinken wieder Bier“, lautete die Empörungstitelzeile. Denn die bindungslose Angst und Empörung brauchte ein Ziel. Dieser mentale Notstand war offenbar so groß, dass Bild sogar ihre eigene Klientel – denn um die handelte es sich auf dem Foto – mit Moralattacken zu traktieren bereit war. SR

Wir ekeln uns vor Wellenreitern. Noch vor fünf Jahren war Helmut Kohl tief im CDU-Spendensumpf versunken. Nunmehr surft er fröhlich auf einer Spendenwelle und sammelt Geld für den Aufbau eines Kinderkrankenhauses auf Sri Lanka. Kohl hat es wieder einmal geschafft, zur richtigen Zeit dort zu sein, wo der Mantel der Geschichte weht. Gegenüber Bild bekundete er: „Das gefällt mir persönlich viel besser, als wenn ich mit dem Flugzeug nach Hause geflogen wäre.“ Wenn es denn hilft.

Auch Guido Westerwelle (FDP) hat seinen Einsatz diesmal nicht verpasst. Während er bei der Jahrhundertflut in Deutschland lieber Beach-Volleyball gespielt hatte, anstatt Sandsäcke aufzutürmen, dachte er angesichts der Tsunami-Flutwelle immerhin in Ansätzen an humanitäre Hilfe: Er forderte eine längere Steueranrechnung für Flutspenden. Wenn es denn hilft.

Die Potsdamer Stadtverwaltung warnt vor falschen Spendensammlern für die Flutopfer in Südostasien. Es seien Betrüger unterwegs, die versuchten, „in schamloser Weise“ die große Hilfsbereitschaft der Menschen auszunutzen. Wenn es denn hilft. MRE

Wir kennen angesichts der Flut keine Geschmacksgrenzen mehr. Alles in einem Showblock: Helmut Lotti, Udo Jürgens und die Toten Hosen! Kein Abgrenzungsekel, nirgendwo. Kein Abschalten der Urteile wegen, die da heißen: „Ekelhaft“, „obszön“ oder „widerlich“. Wer Lotti wollte, musste Campino aushalten. Sturzüberflutet von der Sorge um Landschaften, in denen es Menschen dreckig geht, auf dass sie wieder Hoffnung haben können. Vor knapp 20 Jahren noch, als die deutsche „Band für Afrika“ zusammengestellt wurde, als Nena, Niedecken, Lage, Meinecke und Kunze selbstverständlich waren und Gitte Haenning nur mitmachen durfte, weil sie gerade noch feministisch kompatibel wirkte, wurden karitativ gewogene Schlagerstars ausgebootet – unzumutbar für die Idee des drittweltfolklorisierten Afrika. Gut so, dass es nun anders ist: Ausgrenzung ist menschenverachtend! JAF

Wir machen aus der Flut ein Politikum. In Schweden hat die Regierung Probleme, weil sie nicht schnell reagiert hat. In den Niederlanden war der Innenminister skandalös unerreichbar – Urlaub in Thailand, bitte nicht stören. Hier hat die Flut politische Folgen – und zwar negative für die Regierenden. Und Deutschland schiebt sich mit den zugesagten 500 Spendenmillionen an die Spitze der Geberstaaten. Allen anders lautenden Beteuerungen zum Trotz: Spätestens die nächsten Umfragewerte werden zeigen, dass das großzügige Gebaren des Kanzlers nicht nur uneigennützig war. Und wer wollte einer derart verantwortungsbewussten Nation jetzt noch einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verweigern? KUZ

Wir haben uns an den Schrecken gewöhnt. Die Flut hat zahllose Bilder von Wasserleichen und verwesenden Körpern mit sich gebracht. Nicht nur die Bild-Zeitung scheute sich nicht, ganze Leichenberge abzubilden. Auch der Spiegel zeigte aufgedunsene Touristenleichen, die wie Marshmallow-Männchen wirkten. Ganz zu schweigen vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das selbst zur Hauptsendezeit nicht mit schockierenden Bildern geizte. Das hat bei vielen den Eindruck erweckt, noch nie so viele Bilder von Leichen gesehen zu haben wie jetzt. Doch die allgegenwärtige Sichtbarkeit des Schreckens ist kein Zeichen für einen plötzlichen Tabubruch, der nun in den Medien offenbar wird, allenfalls für eine schleichende Erosion ethischer Standards: Schockierende Bilder gab es schon öfter von vielen Katastrophen und Bürgerkriegen zu sehen. Und jedes Mal wird aufs Neue darüber debattiert, ob damit nun eine Grenze überschritten worden ist.

Die Betroffenheit über die Flut war auch deshalb so groß, weil auch beliebte Touristenregionen überflutet wurden: Wenn das eigene Urlaubsressort unter Wasser steht, fällt die Solidarisierung nicht schwer. Es könnte sein, dass auch der Schrecken über die Leichenbilder nur deshalb so groß ist, weil viele ahnen: Man hätte selbst unter den Opfern sein können. BAX

Wir machen uns die Katastrophenbilder selbst. Nur selten hatte der konzentrierte Blick durch die Digicam eine so tragische Folge wie im Fall des jungen Touristen, den die Flutwelle mitriss, als er am Strand, mit dem Rücken zum Meer, seine Freundin filmte – Bilder fürs ganz private digitale Urlaubsalbum. In den meisten Fällen führten die zahlreichen Blicke und Klicks und Zooms von Touristen, die die Flut hautnah erlebten, zu genau denjenigen Augenzeugendokumenten, die eine wirklich private Perspektive auf die Katastrophe erst ermöglichten. Bilder fürs digitale Katastrophenalbum, die sich rasant auf allen medialen Kanälen verbreiteten: Material für Endlosschleifen, das bei keiner Katastrophe zuvor in dieser Menge zur Verfügung stand – den Camcordern sei Dank.

Wir halten seit langem nur das für wirklich, was gefilmt und abgelichtet existiert. Seit sich die Fototechnik über ihre Digitalisierung zunehmend vereinfacht hat, glauben wir am meisten das, was wir selbst im Fokus unserer Kamera hatten. Die Urlaubsfotografie als ultimative Inszenierung unserer schönen Freizeit – weit mehr als der Beweis „wir waren da“, sondern Beleg für unsere gelebten Schnappschuss-Abenteuer – hat ihr Pendant gefunden: die private Katastrophenfotografie. SL

Wir wollen nicht abseits stehen. Wer jetzt nicht für die Flutopfer spendet, der kann kein gutes Herz haben. Die Schauspielerin Sandra Bullock hat eine Million US-Dollar gespendet, Steven Spielberg sie tags darauf mit 1,5 Millionen übertrumpft. In Deutschland trägt derzeit Michael Schuhmacher den Glorienschein des edelsten Spenders; er hat zur großen ZDF-Gala 7,5 Millionen Euro lockergemacht.

Und dabei läuft die Charity-Welle gerade erst an, rund um den Globus: In Großbritannien haben Altstars wie Cliff Richard und Boy George eine Benefiz-Ballade aufgenommen, in Hongkong chinesische Stars wie Jackie Chan eine neue Version von „We are the World“ aufgenommen, in Mandarin. Und auch in Indien machen Bollywood-Stars für die Flutopfer mobil.

Diese demonstrative Hilfsbereitschaft hat längst eine Eigendynamik entwickelt, die mit der eigentlichen Flutkatastrophe nicht mehr viel zu tun hat. Sie ist zur Prestigefrage geworden: Niemand will sich später nachsagen lassen, er habe abseits gestanden. Der Charity-Hype lenkt allerdings davon ab, dass die Anteilnahme nicht immer so groß ist, wenn es um die Nöte der Dritten Welt geht: Für Entwicklungshilfe gibt Deutschland weit weniger Geld aus als zum Beispiel Frankreich oder Großbritannien.

Eine schlichte Erhöhung dieses Etats zu fordern verspricht aber weit weniger Prestige als eine einmalige Spende: Diese Forderung wird deshalb auch viel seltener erhoben. BAX