Cowboys in Ketten

Gladiatoren-Rodeo in Angola: Im größten Hochsicherheitsgefängnis der USA werden makabre Spiele im Stil des antiken Rom zur Touristenattraktion

VON KERSTEN SCHÜSSLER

Israel Ducré steht vor einem schier endlosem Horizont und strahlt. Mit dem weißen Cowboyhut, den ledernen Chucks, Weste und Sporenstiefeln wirkt dieser afroamerikanische Macho wie eine Freiheitsikone. Wenn er spricht, perlt die Weite und Freiheit der USA in jenem zarten, sanften Schmelz hervor, der alles Räsonnieren souverän beiseite schiebt: „Each one got to choose the sport he wants to fool with!“

Israel Ducré ist Rodeo-Reiter, und er steht dazu. Er hat viel riskiert in seinem Leben und oft damit gespielt. Heute riskiert er viel für seinen Sport. Verletzungen, Wunden, Knochenbrüche bis hin zu lebensgefährlichen Leberrissen. Aber er will auch diesmal wieder antreten.

„No risk, no fun“, grinst er und sieht dabei zwanzig Jahre jünger aus als 42. Doch mit „fun“ ist das so eine Sache. Israel Ducré lebt in Angola. Angola, das war einst eine riesige Farm in Louisiana, bewirtschaftet von Sklaven aus Afrika. Heute ist es das größte Hochsicherheitsgefängnis der USA. Das über 70 Quadratkilometer große Areal liegt weitab von allen größeren Orten im sumpfigen Niemandsland des Mississippi-Deltas. Über 5.000 Häftlinge sind in Angola inhaftiert, strengstens bewacht von über 1.000 Aufsehern.

Das Rodeo von Angola ist in den vergangenen 30 Jahren zu einem der spektakulärsten Events im Süden der USA avanciert, Israel Ducré einer seiner Stars. 15.000 Zuschauer kommen zweimal jährlich in die gefängniseigene Arena, dazu rund hundert Gefangene auf den Rängen und 35 Häftlinge in der Arena. Dort unten halten sie sich an den Händen und beten für Gott, George W. Bush und Burl Cain – Cain, der berüchtigte Gefängnisdirektor, „King of the Rodeo“ genannt. Er hat die Arena bauen lassen und das Rodeo zum Publikumsmagneten gemacht. Er hat das gigantische Gefängnis radikal reformiert, hat dafür gesorgt, dass weniger Gewalt in Angola herrscht, mehr Disziplin, mehr Gewinn und ein bisschen mehr Lebensfreude.

Cain ist der unumschränkte Herrscher von Angola. Gerade hat er sich von den Gefangenen ein klassisches Südstaaten-Herrenhaus auf dem höchsten Hügel des gigantischen Gefängnisareals bauen lassen. Persönlich befördert er die Todeskandidaten ins Jenseits, hält mit der einen Hand den Signalgeber für die Giftspritze, in der anderen die des Sterbenden. Ob das christlich ist, fragen wir ihn. „Ja, das steht in der Bibel, Auge um Auge, Zahn um Zahn!“ Ob das Neue Testament nicht jene andere Auslegung nahe lege, wonach über ein Menschenleben kein irdischer Richter befinden möge, beharren wir. „Es ist das Gesetz des Landes. Ich führe es nur aus.“

Vor dem Wohnhaus wienern schwarze Gefangene Cains Privatjeep. Sie decken ihm den Mittagstisch und putzen sein Haus. Sie harken seinen Garten und füttern die Bluthunde, von denen sie gehetzt werden, sollten sie je versuchen zu flüchten. Dass uns das wie moderne Sklaverei vorkommt, bringt Cain zum Lachen: „Wenn die Gefangenen hier vernünftig arbeiten lernen, wissen Sie draußen später, was sie tun können.“ Und wenn sie, wie die meisten hier in Angola, das Gefängnis nicht mehr lebend verlassen? „Dann schadet es ihnen auch nicht. Und falls sie auf die Idee kommen zu flüchten, schieße ich ihnen in den Rücken. Die Leute hier brauchen klare Regeln.“

Klare Regeln herrschen auch beim Rodeo. Zum Beispiel beim „Convict Poker“. Vier Gefangene sitzen an einem Tisch, ein durch Schmerzen aufgepeitschter Stier greift an. Es gewinnt der Gefangene, der zuletzt aufsteht. Einer der Gefangenen am Tisch ist Alex Hennis, ein blonder Struwwelkopf, der mit 23 Jahren in eine Schießerei geriet. Einen Drogenhändler, der ihm zuvor in den Bauch geschossen hatte, traf seine Kugel tödlich. 43 Jahre lautete das Urteil.

Das ist sechs Jahre her, der Bauch ist längst verheilt, aber der Stier reißt neue Wunden. Alex bleibt mit starrem Blick sitzen, während der Gefangene wenige Zentimeter neben ihm seitlich von den Hörnern des riesigen Stiers mitsamt dem Stuhl in die Luft gerissen wird. Tiefes Raunen von der Arena, vereinzelt spitze Schreie. Dann greift der Stier wieder an. Nur noch zwei Gefangene sitzen am Tisch, und Alex hat Pech. Der Stier attackiert seine Seite, er wird herumgeschleudert, Blut spritzt ihm über die Stirn, doch er kann sich aufrappeln und schafft es, aus der Arena zu klettern. Sekundenbruchteile nach ihm ist der andere Gefangene vom Tisch geflüchtet, ein Sieger mit Panik im Blick. „Natürlich sind wir Gladiatoren“, hatte uns Alex zuvor erklärt, „das, was wir hier machen, kommt den Spielen im alten Rom am nächsten.“ Und auch er kämpfe hier als Christ, für Gott.

Gott ist allgegenwärtig in Angola. Armut auch. Mit ihrer Arbeit verdienen die Gefangenen extrem wenig. Wer beispielsweise ein neues Radio haben möchte, um den Gefängnisfunk zu empfangen, muss lange sparen. Die gefährlichsten Rodeospiele bringen dagegen hunderte Dollar Preisgeld.

„Die meisten werden euch sagen, dass sie es für Geld tun“, erzählt uns Lane Nelson, der als Reporter für die Gefängniszeitung The Angolite immer wieder vom Rodeo berichtet. „Aber der eigentliche Grund, warum sie das tun, ist: Sie bekommen eine Chance, da rauszugehen und tausende Leute zu haben, die ihnen zujubeln und klatschen. Und das erste Mal, seit sie im Gefängnis sind, und vielleicht das erste Mal überhaupt in ihrem Leben haben sie das Gefühl, sie sind jemand. Sie sind nicht mehr die verurteilten Mörder, die verurteilten Vergewaltiger, sondern sie sind die Rodeo-Helden – zumindest für diese kurze Zeit. Es ist, als ob ihnen die Gesellschaft kurzzeitig vergeben würde.“

Lane Nelson ist seit Anfang der Achtzigerjahre in Angola, kennt die meisten Häftlinge und ihren täglichen seelischen Überlebenskampf. Wie hunderte andere hat er jahrelang im Todestrakt gesessen und auf seine Hinrichtung gewartet – bis er überraschend begnadigt wurde. Vor zwei Jahren schrieb Nelson ein Buch über diese Zeit, „Death Watch“: „Es war die vielleicht bereicherndste Zeit meines Leben, eine Auszeit wie im Kloster, aber es war auch die schrecklichste Zeit. Besonders im Sommer 1987, als sie acht Jungs in elf Wochen hinrichteten. Ich kannte alle acht, und so habe ich mit jedem die Hände geschüttelt, als sie weggeführt wurden. Das war hart. Was sagst du zu einem Jungen, der ein gesunder Mensch ist und binnen zwölf Stunden tot sein wird?“

Nelson lebt wie die beiden Rodeo-Kombattanten Israel Ducré, Alex Hennis und die meisten anderen Gefangenen in einem relativ offenen Vollzug. Tagsüber dürfen sie auf dem riesigen Areal Feldarbeit erledigen, Kühe hüten, in Fabriken einfache Arbeiten erledigen oder sogar als Gefängnisreporter arbeiten. Angola trägt sich selbst, die Häftlinge leben wie auf einer riesigen Farm, produzieren Ökofleisch und Gemüse, Lederwaren und Fabrikartikel, mit denen das Gefängnis seinen Unterhalt bestreitet. Wer das Glück hat, auf die Rinder aufzupassen, lebt in Angola das Leben eines Cowboys – frei in der Natur auf einem Gelände, das so riesig ist, dass man vergisst, in einem Hochsicherheitsgefängnis zu sein. Doch nachts kehren die Gefangenen zurück in 60-Mann-Schlafsäle. Jeder Einzelne hat hier ein Bett mit einer schmalen Truhe für seine Habseligkeiten am Kopfende. Mehr Privatsphäre gibt es nicht.

Die Sonne steht hoch am Himmel. Das Gatter schnellt hoch, und Israel Ducré hat die Arena ganz für sich. Allein auf dem Rücken eines tobenden Jungstiers, auf dem er sich mit einem Strick zu halten versucht. Das Publikum johlt. Israel verliert seinen Hut. Er rutscht. Das Publikum kreischt. Dann der Sturz. Der Stier trifft Israel am Bein, der schreit, rudert mit den Armen und wird in Sekunden, die wie eine Ewigkeit wirken, von den Rodeo-Helfern unter dem Tier weggezogen. Das Publikum brüllt vor Vergnügen.

„Es sind Todeskandidaten“, gluckst eine Zwanzigjährige, „deshalb geben sie alles.“ Ein dicker Vierzigjähriger grölt: „Ja, die haben nichts zu verlieren! Das ist definitiv die beste Show des Südens!“ Dass Todeskandidaten nicht in die Arena dürfen, sondern nur so genannte Trustees, Gefangene mit einem besonders guten Führungszeugnis, weiß kaum einer im Publikum. Es interessiert auch nicht sonderlich. „Sie sind wie Tiere!“, ruft uns eine Frau zu, als es auf das Finale zugeht.

Der größte Stier kommt, nachdem ihm die Rodeo-Helfer einen schmerzhaften Nagelgürtel um die Hoden gelegt haben, extrem aufgepeitscht in die Arena. Zwischen den Hörner baumelt ein Pokerchip. Wer ihn abreißt, gewinnt 500 Dollar – ein Vermögen. 35 Häftlinge stehen nun in der Arena, einige eher am Rand. Mit dem Mut scheint es so eine Sache, nachdem schon etliche Krankenwagen das Stadion verlassen haben. Zwar gab es heute noch keine Schwerstverletzten. Aber der Respekt vor dem Stier ist selbst im Publikum mit Händen zu greifen. Es ist fast still, als der Gigant durch die Arena tobt.

Erst als ein Gefangener meterhoch durch die Luft geworfen wird, lösen sich die Kehlen. Ein kollektiver Schrei. Helfer laufen vorbei und ziehen den Verletzten hinter die Absperrungen. Die meisten Gefangenen weichen nun zurück. Nur einige wenige wagen sich an das Tier heran, versuchen ihn zu beirren, einer hilft dem anderen, indem er den angreifenden Stier mit grotesken Gesten abzulenken versucht. Dann geht alles ungeheuer schnell. Wütend attackiert der Stier zwei Sträflinge in ihren Streifenhemden, als ein Dritter fast unspektakulär den Chip herunterreißt.

Die wenigsten im Publikum bemerken, dass die Show vorbei ist. Die Gefangenen springen über die Absperrungen, Reiter reißen dem Stier den peinigenden Gurt herunter, der Stier steht plötzlich irritiert und vereinsamt im Schlamm. Eine gespenstische Atmosphäre.

Müde warten Israel und Alex in verschiedenen Ecken unterhalb der Arena darauf, in die Zellenbereiche geführt zu werden. Der Höhepunkt des Jahres ist vorbei, doch für beide hat es nur für Trostpreise gereicht. Und jetzt? „Ich weiß nicht“, sagt Israel, „ob ich nächstes Jahr noch mitmachen kann, ich werde zu alt, es wird zu gefährlich“. Dann fügt er mit mattem Blick an: „Mein Verfahren ist wieder aufgenommen worden, und ich hoffe, meine Leute machen vor Gericht einen guten Job.“ Doch diese Aussicht ist gering. „Die Hoffnung ist müßig“, kommentiert Burl Cain, „die meisten Lebenslänglichen in Angola kommen hier erst raus, wenn sie tot sind.“ Und nicht einmal das ist die Regel. Viele verlieren in den Jahrzehnten den Kontakt zu ihren Angehörigen und werden sogar in Angola begraben. Die Gräber auf dem Friedhof erzählen die Geschichte vergessener Menschen, die, von der Gesellschaft zur Besserung bestraft, nie wieder ins Leben in Freiheit zurückkehren durften.

Während ein nicht enden wollender Strom von Zuschauern durch die Kontrollen wieder aus Angola abzieht, gehen Israel und Alex wieder zu ihren Pritschen. „Du musst einfach an Gott glauben“, lächelt Alex erschöpft, „es gibt keine andere Hoffnung, Mann!“