„Wir erleben gerade den Umbruch: Viele hören auf, zu hoffen“

Kampf gegen das Ungewisse: Auswärtiges Amt, DRK-Suchdienst und Polizei arbeiten bei der Opferidentifizierung Hand in Hand. Bisher konnte erst jeder sechste Fall gelöst werden

Rotkreuz-Mitarbeiter reisen ins thailändische Hinterland. In Dörfern und Flüchtlingslagern hängen sie Listen Vermisster aus

BERLIN taz ■ Die Menschen drängen sich auf den Fluren und belagern die Telefone. Hoffende, Verzweifelnde, Trauernde. Seit die Flut Asien überschwemmte, ist alles anders beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) in München. 960 Mal haben Mitarbeiter in den vergangenen Tagen Formulare ausgefüllt und Reisedaten vermerkt. Sie haben Taschentücher gereicht, Weinende gestützt und psychologischen Rat vermittelt. „Wir erleben gerade den Umbruch. Viele Menschen hören auf, zu hoffen. Sie ahnen: Mein Vater, Bruder oder Freund liegt auf dem Meeresgrund oder in einem anonymen Grab“, sagt Suchdienst-Mitarbeiter Hansjörg Kalcyk.

Das DRK ist nicht das einzige Forum, das Verschwundene verzeichnet. Wer Freunde oder Verwandte vermisst, kann sich auch an das Auswärtige Amt (AA) oder ein Polizeirevier wenden. Suchdienst, Amt und Polizei gleichen täglich die Namen ab, um Doppelungen zu vermeiden.

Die Nachforschungen teilen sie sich dann auf: Die Polizei sammelt daheim bei den Familien Zahnbürsten und Kämme für DNA-Analysen. Auch bittet sie Zahnärzte um Gebissabdrücke vermisster Patienten. Damit unterstützt sie die Arbeit des Bundeskriminalamts in Thailand und Sri Lanka. Dort versucht derzeit ein 51-köpfiges Team aus Kriminalbeamten, Gerichts- und Zahnmedizinern, Leichen zu identifizieren. Die Idko, so lautet das Kürzel der Identifizierungskommission, entnimmt Gewebe- und Haarproben, sichert Finger- und Zahnabdrücke, notiert besondere Merkmale: Hat der Tote Narben, trägt er Piercings? Denn allein über den Anblick lassen sich nur noch wenige der Toten identifizieren, zu sehr sind ihre Körper nach Tagen vom Meerwasser und der Sonnenglut entstellt. Der Laie könnte einen Europäer kaum mehr von einem Asiaten unterscheiden. „Die meisten Verstorbenen werden wohl per DNA-Analyse oder über den Zahnstand identifiziert werden müssen“, sagt ein Sprecher des BKA. Können die Toten nicht gekühlt werden, versehen die Experten sie mit Mikrochips – so lassen sich Verstorbenen später in Massengräbern wiederfinden. Wird eine Leiche identifiziert, überbringt das AA die Todesnachricht. Vor allem aber forscht es in der Krisenregion: Seine Mitarbeiter durchkämmen Spitäler, Zeltplätze, Auffanglager, sichten Totenlisten und Krankenfotos.

Doch auch das Rote Kreuz will mehr tun als Medikamente und Lebensmittel zu verteilen. „Wir sind seit Jahren in Thailand und Sri Lanka. Es wäre doch schade, wenn wir unsere Ortskenntnis nicht nutzen“, sagt Klaus Mittermaier, der den Münchner Suchdienst leitet. So reist derzeit eine Delegation durchs thailändische Hinterland. Sie besucht Flüchtlingslager und hängt Listen Vermisster aus.

Streng der Aufgabenteilung entspricht das nicht. Denn die sieht vor, dass die Suche direkt nach der Katastrophe das AA übernimmt. Nach einiger Zeit aber überträgt es die ungeklärten Fälle an das Rote Kreuz. „In wenigen Wochen werden die Tsunami-Akten auf unseren Schreibtischen landen“, erklärt Mittermaier. Schließlich sind sie die Experten für Langzeitvermisste. „Das Grauen dieser Katastrophe – das ähnelt in vielen dem der Weltkriege“, sagt sein Kollege Kalcyk: „Niemals seither wurden so viele Deutsche traumatisiert.“

1945 gegründet, hatte der Suchdienst des Roten Kreuzes jahrelang nur ein Ziel: die 30 Millionen Menschen, die Weltkriegswirren voneinander trennten, wieder zu vereinen – oder wenigstens die Gräber aufzuspüren. Noch heute klärt der Suchdienst Jahr für Jahr rund 20.000 Soldatenschicksale. Daneben forscht er aber auch nach Opfern aktueller Kriege und Naturkatastrophen, sucht etwa nach Vermissten im Irak. Und nun auch nach Tsunami-Opfern. Bis dato konnte erst jeder sechste Fall geklärt werden.

Nach und nach wird es ruhiger in den Fluren und Telefonleitungen des Rotkreuz-Suchdienstes. Die meisten Vermissten sind gemeldet. Freunde und Verwandte, die am Anfang noch hektisch Internetseiten durchklickten, „wechseln jetzt oft zur Phase der Resignation“, sagt Kalcyk. Die BKA-Suchtrupps aber sollten weiterforschen, meint er, selbst wenn sie nur noch Leichen untersuchen können. „Aus der Erfahrung nach dem Weltkrieg wissen wir: Nur, wer weiß, wo der Sohn oder Liebste starb, kann sich ein neues Leben aufbauen. Ein Vermisster – das ist wie ein Buch ohne Schlusskapitel.“ COSIMA SCHMITT