Auf den Schwingen der Literaturzeitschriften

Flaggschiffe gehen unter, und auch etablierte Projekte sorgen sich um Abo-Zahlen und Finanzen. Dennoch werden zwischen Emden und Hildesheim mit viel Hoffnung und Energie neue Literaturmagazine ediert. Eine nicht ganz vollständige Landkarte in Worten

Vorteile der Provinz: Die Notwendigkeit, das unmittelbare Umfeld zu verlassen, begünstigt Entdeckungen und schärft die Profile

von Tim Schomacker

Die Krachkultur wird im Auge behalten. Nicht ganz ohne Stolz zitieren die Herausgeber der gleichnamigen Literaturzeitschrift diese Formulierung auf ihrer Internet-Seite – nicht ohne zu erwähnen, wer ihr Urheber ist: Kein geringerer als der Romancier Helmut Krausser (Melodien) hat das in Bremen geborene Projekt mit diesen Worten seiner Anteilnahme versichert. Und das völlig zu Recht. Das Cover der gerade erschienenen zehnten Ausgabe ziert ein nachdenklich dreinblickender Mann mit Helm, Ohren- und Augenschutzvorrichtung. Grell, jenseits des Mainstreams, aber ohne die oft nervige Selbstbespiegelung des „Underground“ erscheint Krachkultur so halbjährlich wie möglich: Kompromisslos und mit feinem Blick für Zeitgemäßes.

Vielleicht liegt es daran, dass die Herausgeber Martin Brinkmann und Fabian Reimann immer zu zweit geblieben sind. So konnte auch nach Wohnortwechsel und über die Distanz Bremen – Leipzig das Projekt bestehen bleiben. Denn Dauer ist wichtig. Über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet zu werden, ist für eine Literaturzeitschrift gut. Vielleicht ist es sogar das Ziel, der geheime Wunsch, der hinter jeder Gründung steckt.

Literaturzeitschriften haben viele Funktionen gehabt: als Testgelände und Wegbereiter neuer literarischer Strömungen – wie einst die 1899 von dem Bremer Großbürger Rudolf Alexander Schröder mitbegründete Die Insel. Andere dienen als Aushängeschild offiziell verordneter und zugleich ästhetisch gefühlter Wichtigkeit von Literatur – das war zumindest die Aufgabe, die Johannes R. Becher der seit 1948 erscheinenden Sinn und Form zugedacht hatte. Und manche Literaturzeitschriften entpuppen sich wiederum als untergründiges Sammelbecken jenseits des Literaturbetriebs – wie etwa der wundervolle elektropansen, den Stan Lafleur von 1994 bis 1998 in Köln herausgab.

Zeitschriften sind aber immer auch Indiz dafür, dass sich Menschen intensiv mit Literatur beschäftigen, dass sie auf deren gesellschaftlicher oder ästhetischer Bedeutung beharren. Auch im Beobachtungsgebiet der taz nord kam es in den 1990er Jahren zu einer Vielzahl von Neugründungen.

So wie viele Projekte, entstammt auch die jetzt zum zehnten Mal erschienene BELLA triste aus Hildesheim dem studentischen Milieu. Das Jubiläumsheft enthält einen Bastelbogen.

Man kann lustige Girlie-Kleidchen ausschneiden und sie der verschmitzt-mädchenhaften Comicfigur anziehen, die die Cover der Zeitschrift ziert. Die reduzierte, aber pointierte Gestaltung der Hefte gehört zum Credo von BELLA triste. Mit den Lebenswelten verändern sich Inhalte von Literatur genauso wie ihre Formen. Wenn aber Literatur sich verändert, geht das an Zeitschriften nicht spurlos vorbei.

Die meisten Autor/innen sind in den 1970ern geboren, gehören mithin jener Generation an. Fast noch junge Literatur. Zeichnungen auf dem Cover und im Heft weisen dezent darauf hin – ohne Jung und Alt gegen einander auszuspielen.

Binnen relativ kurzer Zeit ist es der Redaktion gelungen, Schreibende zu finden, die sich aus ihrer Perspektive mit literarischen Formen auseinandersetzen, schräg, präzise und erstaunlich souverän. Vielleicht ist BELLA triste ein ähnlich rosiges Schicksal beschieden wie dem etwas älteren Referenzprojekt eDit aus Leipzig.

Es wäre ihnen zu wünschen. Denn viele Projekte haben im Kampf um die eigene Existenz zu irgendeiner Phase einschneidender Veränderungen in Verlagswesen und Literaturbetrieb irgendwann zu viel Tribut zollen müssen. Die Einstellung einer der großen alten Damen der deutschsprachigen Zeitschriftenlandschaft, der neuen deutschen literatur – ndl in diesem Winter, aber auch der aktuelle Streit um das Für und Wider der Neubesetzung der Buchmessen-Gesamtleitung in Frankfurt – Management versus Inhalt – zeigen, dass die Zeiten härter geworden sind. Etablierte Projekte sorgen sich oft genauso um Abonnementszahlen und andere Einnahmequellen wie kleinere Zeitschriften.

So hat es 2004 die in Braunschweig erscheinende SUBH hinweg gerafft, ein Periodikum, dass sich der Pop-, mehr noch der Punk- und Rockkultur literarisch verschrieben hat. Ein echter Verlust: Nicht dass man die bizarren Alltags- und Provinztexte immer gerne gelesen hätte. Aber ein solches Literatur-Fanzine wartet stets auch mit einigen herausfordernden und unterhaltsamen Geschichten und Gedanken auf, die man so in den Gefilden des Hardcovermarktes kaum findet.

Doch wie im Bereich der Musik zu beobachten ist, stößt auch der Selbsterhalt des Underground an ökonomische Grenzen. Zum letzten Weihnachtsfest bat Wortwahl, die in Kiel ansässige „Literaturzeitschrift des Nordens“, die geneigte Leser/innenschaft um Verständnis für eine Schaffenspause. Auch die Hamburger hundspost, die es vor einigen Jahren binnen kurzer Zeit zu erstaunlicher Qualität und Popularität und schließlich flächendeckend an die Bahnhofsbuchhandlungen und Kioske schaffte, gibt es nicht mehr: ein literarisches Start-Up mit role-model-Funktion, was Erscheinungsbild und Vertrieb betraf, mit prominenten Schreibenden, exzellenten Texten und einer großen Fangemeinde.

Abgesehen von den wenigen bei Verlagen anhängigen Zeitschriften wie dem Rowohlt Literaturmagazin sind es stets einzelne oder kleine Gruppen von Literaturwütigen, die sich aufmachen, den literarischen Markt zu beleben. Deshalb gehören die Abhängigkeit vom Auf und Ab des Literaturbetriebs, die Zwischenposition als Beobachtender und Beobachter sowie nicht zuletzt die leidige Finanzierungsfrage zum Los der Literaturzeitschrift. Nun ist die norddeutsche Tiefebene zwischen Emden und Schleswig alles andere als einheitlich, und vielleicht macht es auch nicht allzu viel Sinn, Gemeinsamkeiten herausfiltern zu wollen. Immerhin ist aber zu mutmaßen, dass es von den horen (Bremerhaven) über Eiswasser (Vechta) bis zur aktuellsten substanzvollen Neugründung, BELLA triste aus Hildesheim, auch und gerade jenseits literarischer Zentren zu hoch konzentrierter und ernsthafter Beschäftigung mit Literatur und Zeitschriftenmachen kommt.

Die Notwendigkeit, für Kontakte hinauszugehen aus dem nicht immer urbanen unmittelbaren Umfeld, kommt den Projekten zugute. Persönliche Vorlieben werden ausgebaut, vorhandene Kontakte genutzt. Wer zum weiträumigen Suchen gezwungen ist, wird umso fündiger. So bildete sich entlang der zehnjährigen Eiswasser-Historie ein Skandinavien-Schwerpunkt heraus, der zu einer einzelnen Buchreihe mit norwegischen Gegenwartstexten führte.

Und nicht nur das prägnante wie umfassende Südafrika-Heft, das just den 50. Jahrgang der alten Dame die horen eröffnete, zeigt, wie sehr Literaturzeitschriften in ihrer redaktionellen Struktur existieren und aus deren Ideenreichtum und Kontaktfreude sich speisen. Im immerhin vierten Lebensjahrzehnt machten sich die horen, deren nicht immer lesefreundliches Layout man bei soviel Inspiration und Qualität gerne verzeiht, auf, mit einer eigenen Buchreihe die europäischen Literaturen zwischen Island und Rumänien zu erkunden.

Tim Schomacker, Jahrgang 1973, arbeitet seit 2000 als Redakteur für die Zeitschrift für Literatur „Stint“. Für ein Romanprojekt erhält der Autor das Bremer Autorenstipendium 2004.