: „ ‚Geiz ist geil‘ ist eine Spätfolge der 68er“
INTERVIEW BERNHARD PÖTTERUND MATTHIAS URBACH
taz: Herr Hauff, jeder hat eine eigene Definition von „Nachhaltigkeit“. Wie ist Ihre?
Volker Hauff: Ganz einfach: an unsere Kinder denken. Man kann das theoretisch überhöhen, aber das ist der Kern.
Für Sie ist also eine Politik nachhaltig, wenn unsere Kinder es einmal genauso gut haben werden wie wir.
Ich würde es nicht am Lebensstandard festmachen: Es geht auch darum, durch unsere Art, heute zu leben, unseren Nachkommen nicht den Lebensstil vorzuschreiben. Wir müssen Perspektiven offen halten.
Sie haben jüngst auf dem Kongress des Nachhaltigkeitsrats gefordert, die Bundesregierung müsse mehr über ihre Werthaltung reden.
Allerdings. Wir haben zurzeit ein Vakuum an Wertdiskussion. Das hat einen Grund: Die Nachkriegszeit bis in die Sechziger war geprägt von traditionellen Wertvorstellungen: Fleiß, Ordnung, Pflichtgefühl …
… die deutschen Sekundärtugenden.
Es sind gute alte Werte. Sie wurden von den Nazis missbraucht. In der nötigen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war schon der berühmte Satz von Oskar Lafontaine gegenüber dem Kanzler Helmut Schmidt falsch, mit Sekundärtugenden wie Pflichtgefühl könne „man auch ein KZ betreiben“. Mit der Bewegung der Blumenkinder, der 68er, traten andere Werte in den Vordergrund: Selbstverwirklichung, Lust, Individualität, Liebe und Frieden.
Was ist daran falsch?
An manchen Punkten ging das sehr weit. Die heutige „Geiz ist geil“-Ellenbogenmentalität ist doch eine Spätfolge des damaligen Hedonismus. Die 68er erkennen heute, dass einiges zerstört wurde, was bewahrenswert war. Doch sie sind zurückhaltend, eine neue Wertedebatte zu beginnen – weil sie sich in gewisser Weise geirrt haben.
Worin unterscheiden Sie sich von den Konservativen?
Es geht darum, die Familie wiederzuerkennen als einen wichtigen Ort, wo die Sozialisierung der Kinder stattfindet. Und wir müssen darüber nachdenken, wie wir Familienleben und Erwerbsarbeit unter einen Hut bringen. Renate Schmidt nennt das: „Von einer gut gemeinten zu einer nachhaltigen Familienpolitik“ – das gefällt mir.
„Nachhaltige Familienpolitik“ klingt nach einer Floskel.
Renate Schmidt geht es um lokale Allianzen für die Familie: Wohlfahrtsorganisation, Gewerkschaften und die großen Wirtschaftsverbände unterstützen das bereits – als ein völlig neues Element der Familienpolitik. Es geht um mehr Kindergärten und etwa Möglichkeiten, auch kranke Kinder zu betreuen, um so Erwerbs- und Familienleben besser zu vereinbaren – das wäre nachhaltig.
Aber welche Werte wollen Sie denn propagieren?
Es gibt zwei Pole: einerseits Freiheit und Spielräume – andererseits Bindungen und Verpflichtungen. Wir brauchen Synthesen zwischen beiden. Ich träume von einer Welt, in der sorgfältiger mit sozialen Beziehungen umgegangen wird. In der man die Verletzlichkeit der Menschen, der Welt, besser einschätzt. Wenn die Linke dieses Feld weiter unbeackert lässt, dann wird es zum kulturellen Backlash kommen – wie in den USA.
Also: Treue als Wert?
Treue, Bindungsbereitschaft, Opferbereitschaft … also Begriffe, wo man wahnsinnig aufpassen muss, dass sie nicht missbraucht werden.
Kann sich auch eine Partei zu solchen Werten bekennen?
Ich habe vor Jahren mal versucht, so was in meiner Partei, der SPD, zu verankern. Vergebens. Was wir brauchen, ist eine neue Form der Bescheidenheit. Die Menschen fühlen sich oft arm, obwohl sie wohlhabend sind.
Der Wertewandel seit den 68ern war doch im Kern eine Reaktion auf ökonomische Zwänge, auf die Forderung nach Flexibilität. Ist Ihr Ansatz nicht realitätsfern?
Die Realität holt uns doch längst ein. Vom Rat aus saß ich kürzlich zusammen mit Banken und Versicherungen, die sich für Nachhaltigkeit engagieren. Ich habe sie gefragt: „Warum macht ihr das eigentlich, das verhagelt doch eure Vierteljahresbilanzen?“ Die haben geantwortet: „Der Druck kommt aus den Personalabteilungen.“ Wer gute Leute im Unternehmen halten will, muss ihnen mehr anbieten als nur eine gute Börsenbilanz.
Aber das gilt doch nur für Hochqualifizierte. Die Bosse von Opel und Karstadt wären froh, wenn ihre Angestellten von selbst gingen.
Es gibt auch andere Beispiele. Nehmen Sie die Viertagewoche oder das 5.000-mal-5.000-Konzept bei VW.
Lebt VW diese Werte der Nachhaltigkeit besser als Opel?
Allerdings.
Woran liegt das? An der staatlichen Beteiligung?
Nein. Das liegt am Management. Denken Sie an Porsche: Die machen diesen Firlefanz mit dem Vierteljahresbericht nicht mit. Denen wurde damals gedroht: „Ihr fliegt aus dem DAX raus.“ Da haben die geantwortet: „Na und?“ Das ist Führung.
Sportwagen sind nicht gerade nachhaltige Produkte.
So sind die Widersprüche der Welt. Aber immer mehr Unternehmen erkennen, dass man auch mit nachhaltiger Firmenpolitik Geld verdienen kann. Schröders Satz trifft den Punkt: „Nachhaltigkeit ist der rote Faden der Politik des 21. Jahrhunderts.“
Gerade dem Kanzler haben Sie attestiert, dass dieser rote Faden bei ihm nicht sichtbar ist.
Korrekt. Die Regierung tut zwar viel Gutes, redet aber nicht richtig darüber. Etwa die Idee der Abschaffung der Eigenheimzulage, eines der ganz wenigen Instrumente, die es gibt, um die Zersiedelung der Landschaft einzudämmen – eines der großen Ziele nationaler Nachhaltigkeitsstrategie. Doch die Regierung begründet das nur mit Sparzwängen. Das macht mich kirre.
Würde eine stärkere Wertorientierung auch die praktische Politik ändern?
An manchen Stellen sicher.
Wo zum Beispiel?
Künftige Einnahmen zu verkaufen, wie gerade die Pensionsforderungen an die Telekom, um den Haushalt zu sanieren, das ist das Gegenteil von nachhaltig. Und der Vorschlag, den Feiertag am 3. Oktober abzuschaffen, war abgrundtief falsch.
Was hat ein Feiertag mit Nachhaltigkeit zu tun?
Ich sehe das unter dem Aspekt von Bindung: Es ist wichtig, dass es Identifikationsmerkmale gibt. Ein Beispiel: Das Land, das am besten mit Einwanderung klarkommt, ist Kanada. Dazu gehört auch, dass Kinder ab dem 3., 4. Lebensjahr in den Kindergarten gehen, um die Sprache zu lernen. Jeden Morgen wird dort die Nationalhymne gesungen – die wissen mit fünf: Ich bin Kanadier.
Sie sagen: Eine Regierung, die keine Werte vermittelt, macht eine wertlose Politik. Ist die Politik von Rot-Grün wertlos?
Sie tun sich sehr schwer damit. Neulich etwa war die Bundesministerin Ulla Schmidt im Frühstücksfernsehen und wurde von einem Anrufer aus Bochum kritisiert: „Ich habe 35 Jahre malocht und jetzt kürzt ihr mir die Rente: Ist das eigentlich noch sozialdemokratische Politik?“ Und dann erklärt Frau Schmidt, wir kürzen ja gar nicht die Renten, wir kürzen ja nur die Zuwachsraten, und wir sind in einer Schieflage und so weiter. Anstatt eine einfache Gegenfrage zu stellen: „Hast du Kinder? Hast du Neffen, Nichten? Sollen wir denen das Chaos hinterlassen?“ Da wird sie nicht sofort Zustimmung erreichen, aber es wird eine ganz andere Diskussion. Das ist das Problem mit der Agenda 2010: Sie wird als finanzpolitisches Instrument diskutiert, nicht als Projekt der Generationengerechtigkeit.
Über Werte redet gern, wer objektive Hindernisse ausklammern will: Statt Verteilungsprobleme anzugehen, redet man lieber über Bescheidenheit.
Das ist eine Riesengefahr und auch der Grund, warum ich mich damals in der SPD nicht durchsetzen konnte. Natürlich haben wir auch in der lebenden Generation Verteilungsprobleme – und dürfen das nicht ignorieren.
Was gefährdet unsere Zukunftsfähigkeit am stärksten?
Die Frage der Ressourcen, der Verteilung, des Klimas. Und in Europa kommt das demografische Problem dazu.
Die Rente.
Es geht längst nicht nur um die Rente. Es geht auch um Städtebau, Bildungseinrichtungen, medizinische Versorgung – das werden wir in 20 Jahren alles nicht wiedererkennen. Doch fast niemand kümmert sich darum.
Frühere Kanzler hatten ihre Visionen. Adenauer stand für die „Westbindung“, Brandt für „Mehr Demokratie wagen“. Wie könnte ein Leitmotiv für Schröder aussehen?
Ein möglicher Slogan wäre: „Wohlstand – auch für unsere Kinder“. Aber um nicht falsch verstanden zu werden, die Politik geht in die richtige Richtung, aber Gerhard Schröder macht den Zusammenhang mit der Nachhaltigkeit nicht klar genug. Das beginnt bei der Überschrift „Agenda 2010“. Was ist denn das für ein Wert? Es gibt in der Regierung ein politisches Verständnis nach dem Motto: Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen.
Ein Satz von Helmut Schmidt. Würde auch Gerhard Schröder das sagen?
Nein, das würde er nicht.
Aber er denkt es doch.
Ich glaube, er ist da ambivalenter. Er ist halt niemand, der in Konzepten denkt und handelt. Er vertraut auf seinen Instinkt – und der ist exzellent.
Nur hat Instinkt nichts mit Werten zu tun. Der Instinkt heißt: Wie komme ich über die nächste Wahl.
Darum geben wir im Rat auch die Hoffnung nicht auf, dass die Regierung ihr Konzept ergänzt.
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