Hinterm Haus, da liegt die Front

AUS BERTINGENTHOMAS GERLACH
UND ROLF ZÖLLNER (FOTOS)

Dieter Selent läuft durch Matsch. In den Strümpfen kriecht Wasser hoch, der Boden schmatzt, er tritt mit großen Sandalen Unkraut nieder. Seine Frau hat ihm geraten, Schuhe anzuziehen. Selent hat abgewunken, ist losmarschiert, Hände in den Taschen, ein Lächeln auf den Lippen. Er trampelt vorwärts, Schlamm an den Füßen, Gestrüpp im Gesicht. In solchen Momenten könnte Dieter Selent durch Wände laufen, zehn seiner stärksten Islandpferde würden ihn nicht halten. Dabei hätte er leicht trockenen Fußes in die hinterste Ecke seines Hofes gelangen können.

Aber wozu? Es ist sowieso alles egal. Mehr als egal, es ist scheißegal. Bloß keine falsche Höflichkeit. Der Dreck an den Füßen ist das Harmloseste in diesem Dorf. Wenn es nur den Schlamm gäbe, würde Selent vermutlich laut loslachen. Dieter Selent, 52 Jahre alt, ist zum Zyniker geworden – vor allem gegen sich selbst. Hier in Bertingen hat er Zeit investiert und Geld, viel Zeit und viel Geld. Aus dem Niedersächsischen ist er seiner Frau und den Schwiegereltern in das Dorf in Sachsen-Anhalt gefolgt, den Kopf voll – Landwirtschaft, Pferdezucht, Psychotherapie-Praxis und dann im Schatten der Bäume gemeinsam alt werden – all das, was man in Studententräumen Selbstverwirklichung nennt. Oder mal so nannte. Es ist alles so lang her. Und so egal. Fünf Nachbarn brachte er wegen versuchten Totschlags in Magdeburg vor Gericht. Dieter Selent und seine Familie, vom Großvater bis zum Enkel, sind in einen Krieg verwickelt. Und das seit vier Jahren. Mindestens.

So viel steht fest: In der Silvesternacht 2000 kam es zu einer Auseinandersetzung auf Dieter Selents Hof. Auf diese Formulierung könnten sich alle im Dorf wohl noch einigen. Alles weitere geht auseinander. Für den Angeklagten Helmut Lehmann „war da nichts“, für den Bürgermeister, der selbst nicht beteiligt war, war es eine „Kabbelei“. Einer aus dem Dorf sagte: „Wäre damals eine Waffe im Spiel gewesen, wär’s anders ausgegangen.“ Aber er war auch nicht dabei. Für die Volksstimme aus Magdeburg war es ein „Ost-West-Konflikt“ und für Dieter Selent ein „Mordversuch“. Zwei Nachbarn sollen ihn festgehalten haben, ein Dritter habe ihn gewürgt, dabei sollen andere geschrien haben: „Wir machen dich kalt!“ Danach kamen Polizei und Krankenwagen.

Üblicherweise wird so ein Handgemenge auf dem Amtsgericht verhandelt. Wenn überhaupt. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich, weiß die Dorfstraße. Aber das hier ist kein Pack, das sind Kombattanten, die Strategien haben, Ziele, Verbündete. Und einen Gegner. Auch dieser Fall kam erst vors Amtsgericht: Fünf Bertinger wurden wegen gemeinschaftlich begangener Körperverletzung angeklagt – zweieinhalb Jahre nach der Tat. Im November 2003 allerdings hat der Richter das Verfahren an das Landgericht Magdeburg verwiesen. Es bestehe „hinreichender Tatverdacht eines versuchten Tötungsdeliktes zum Nachteil des Zeugen Selent“. Dieter Selent war zufrieden.

Danach kehrte erst einmal Ruhe ein. Eine theoretische Ruhe gewissermaßen. Fünf Meter Mindestabstand zu den „Geschädigten“ befahl eine richterliche Anordnung vorsorglich. Da könnte man gleich verbieten, dieselbe Luft einzuatmen und denselben Himmel anzusehen. Seitdem werfen beide Seiten einander vor, zu provozieren: mal mit Hund, mal mit Fotoapparat, mal mit Auto. Auf der einen Seite hielten die Nachbarn den Abstand nicht ein, klagt Selent, auf der anderen reize Dieter Selent, damit sie endlich die winzige Bannmeile verletzten und er sie anzeigen könne, klagen die Nachbarn.

Womit das eigentlich alles angefangen hat? Vermutlich mit der Ankunft der Selents in Bertingen. Die Ersten murrten bald, der Neue führe sich auf wie ein Graf. Wie er mit seinem Auto durch das Dorf brause, wie er mit seinem Traktor über die Felder jage, wie er mit dem Rottweiler spaziere. Dieter Selent begann, Islandpferde und Rinder zu züchten. Natürlich kaufte er Grund und Boden, hier ein Haus, da eine Scheune, dort einen Stall. Er zäunte manches ein. Und mit jedem Stück Land, das er kaufte, jeden Zaun, den er zog, und jeder Grundstücksgrenze, die er markierte, wurde der Frontverlauf zu den Nachbarn sichtbarer, fühlbarer, greifbarer. Selent erinnerte Angler daran, dass sie mit ihren Autos nun nicht mehr bis zum See fahren könnten, wie sie das bisher immer getan hatten, weil es nun sein Land sei und nicht mehr LPG-Acker.

Dieses unbehagliche Gefühl, dass sich da einer ausbreitet, der kauft und dabei gewissermaßen schamlos vorgeht, weil er Gewohnheiten ein Ende setzt, die viele schon als Recht empfanden, dieser Verdacht, dass so einer am Ende gar das ganze Dorf besitzt – dieses Misstrauen mischt sich mit Erinnerung. Hat Dieter Selent nicht tatsächlich eine Statur wie ein Landgraf, zu dem Pferd, Hund und ein gewisser Tatendrang von Geburt dazugehören? Und kann sich Herr Selent diesen Tatendrang nicht auch leisten? Das eigene Dasein ist im Vergleich weniger umfangreich. Bis auf den arbeitslosen Maurer Helmut Lehmann, der für Bertingen einen geradezu pompösen Karpfenteich und eine Pfauenzucht sein Eigen nennt, leben die Nachbarn in kleinen Häusern mit kleinen Höfen und struppigen Hunden – wahre Murkeleien.

Und die Mauern, die um diese Wirtschaften laufen, stehen auch nicht stolz und kühn. Eine war schief, sie wurde zur DDR-Zeit gebaut – und reichte eine Handbreit auf Selents Grundstück. Nachdem dieser mit dem alten Nachbarn beim Schiedsmann gewesen war – das Klima war schon getrübt –, riss er die Mauer ab. Halt!, rief der Alte. So stand das nicht geschrieben. Und wenn doch, habe Selent getrickst. Was hat denn der Alte verstanden von den Paragrafen, entschuldigt sein Sohn. Man zog vor Gericht – und der Alte verlor. An der Scheunenseite, wo die Mauer stand, hat dann einer DDR-Embleme angebracht, sodass Selents Schwiegereltern, die Altbauern, das Hoheitszeichen nicht übersehen konnten. Da ist denen was hochgekommen, vorzugsweise die Erinnerung an 1957, als sie in die LPG sollten und deshalb Haus und Hof aufgegeben hatten und mit Tochter Sigrid in den Westen gegangen waren. Der Bruder vom Altbauer blieb, arbeitete in der LPG und hat auf dem Hof weitergelebt. Die beiden Brüder sind nie mehr miteinander warm geworden. Erzählt man sich.

Man erzählt sich viel. Und längst ist es Schlechtes. Wenn Dieter Selent über seine Nachbarn redet, entschlüpft ihm gelegentlich das Wort „unterbelichtet“, und es quillt Verachtung aus seinem Mund. Und wenn die Nachbarn, alle irgendwie verwandt, am Abend in der Veranda von Helmut Lehmann sitzen, zahlen sie mit gleicher Münze heim. Keine Ahnung von Pferden habe Selent. Dann reden sie vom „Grafen“, der keinen Respekt vor den Einheimischen und den eigenen Verwandten habe. Und seine Frau, die Sigrid, hat 40 Jahre im Westen gelebt – zu lang, als dass sie noch eine Einheimische sein könne. Und das mit den DDR-Emblemen, murmelt Ursula Lehmann, einzige Frau unter den Angeklagten, sei im Übrigen legal. Schließlich könne man DDR-Zeichen überall kaufen. Die anderen nicken. Dann barmt sie, dass sie seit Monaten nicht richtig schlafe wegen des Prozesses. Und Marco, der Älteste, ebenfalls angeklagt, hat sich seine Bundeswehr-Karriere abgeschminkt. Er wäre gern ins Kosovo gegangen. Wegen der Verhandlung wird das nun nichts.

Wenn Selent das hörte, wäre er zufrieden. Natürlich leidet auch seine Frau, und sein Sohn, traumatisiert von jener Nacht, konnte zwei Jahre seine Lehre als Landwirt nicht fortsetzen. In gewisser Weise ist Gleichstand. Auge und Auge, Zahn um Zahn. Bei so einem archaischen Schauspiel ist auch Bild nicht fern: „Genervte Nachbarn verdroschen reichen Wessi“, titelte sie zum Prozessauftakt in Magdeburg.

Zerstrittenstes Dorf Sachsen-Anhalts? Alles Quatsch!, ruft der Bürgermeister ins Telefon, man feiere schöne Feste. 227 Einwohner habe das Dorf, davon 14 aus den alten Bundesländern, das sei kein Ost-West-Konflikt, sondern ein rein menschlicher. Er jedenfalls sei die Sache leid und er verstehe nicht, dass irgendeine Zeitung noch darüber berichtet. Er fügt an, es gebe in einer Gemeinschaft eben bestimmte Regeln. Diese seien sehr großzügig, aber wer sie wie Dieter Selent verletzt, der habe es eben schwer.

Selent winkt ab. Was soll man von einem ehemaligen NVA-Offizier anderes erwarten? Und es ändert auch nichts, dass ihre beiden Ehefrauen Cousinen sind. Selent hat auch beim damaligen SPD-Innenminister von Sachsen-Anhalt wegen des Silvesterstreits vorgesprochen. Der habe ihm nicht helfen können, sagt er. Er redet nicht besonders gut über den Innenminister, auch nicht über Pastoren, Landräte, Polizisten, Rechtsanwälte, Redakteure. Manchmal schimpft er auf „rote Socken“. Und hat er es in seiner Magdeburger Praxis als Psychotherapeut nicht immer wieder mit Patienten zu tun, die jetzt noch von der DDR-Gesellschaft traumatisiert sind? Selent fühlt sich von kaputten Persönlichkeiten umkreist. Keine Hilfe weit und breit. Militärs schicken in solcher Lage Emissäre. Dieter Selent schickt Rechtsanwälte.

Das hat ihm wenig geholfen. Nach zehn Verhandlungstagen wurden am Montag die Verfahren gegen Auflage eingestellt. Die fünf Angeklagten müssen Bußgelder und Gerichtskosten zahlen. Ein banales Ende. „Rechtsbeugung“, ruft Dieter Selent. Vielleicht hätte er auf seinen Vater hören sollen, als dieser noch lebte. Der alte Selent, aus Wolhynien stammend, war bis Herbst 1953 im Gelben Elend in Bautzen in Stasi-Haft, dann floh er in den Westen. „Der hätte keinen Fuß mehr in den Osten gesetzt“, erzählt Dieter Selent. Egal. Ende. Aus. Aus? Jetzt will einer der Nachbarn gegen Selent klagen. Ein Grund wird sich finden.