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Kilometer um Kilometer führt der Weg schnurstracks in Richtung Zentrum. Ein Spaziergang durch die Kiefholzstraße, die wohnliche Mittelschichtsidyllen, Gartenkolonien und Billigrestaurants vereint

Die Gartenkolonien entlang der S-Bahn flimmern in ihrer stillen Statik

VON CHRISTOPH BRAUN

Die Straße beginnt, wo sich Berlin wie sein eigenes Umland anfühlt. In der Königsheide wächst auf bleichem Sand, was der Kiefholzstraße ihren Namen gibt: Kieferngehölz. Doch schnell bricht das Unregelbare in all die Starre und Nüchternheit ein, mit der das Naherholungsgebiet geplant ist. Überall fliegen Plastiktüten im Wind, und den Parasolpilz am abgefaulten Holzstamm pflückt man lieber nicht.

Nur einen Schritt über die Südostallee, und man steht auf einem Friedhof. Hier riecht es feierlich nach Gerbera und Anthurien. Das Zentrum der Anlage bildet das vor fünf Jahren eröffnete Krematorium, das eine ganz besondere Besinnungsarchitektur bietet: Im Inneren hallen jeder Ton und jedes Geräusch noch acht Sekunden nach. Wer hier herauskommt, hat die Wahrnehmung auf Langsam umgestellt.

Das ist praktisch, denn langsames Gehen, immer wieder Stehenbleiben und Umschauen, diese Bewegung gibt die Kiefholzstraße vor. Obwohl sie schnurstracks in Richtung Stadtzentrum führt, herrscht kaum Verkehr. Selbst um den täglich auf dem Trottoir sitzenden Trauerblumenverkäufer macht man sich Sorgen, denn auch die Geh- und Radwege sind verlassen. Alles ist auf die parallel verlaufende Köpenicker Landstraße umgelenkt, die Hauptachse zwischen Kreuzberg und Neukölln in Richtung Südosten.

Auf der Kiefholzstraße dagegen beginnt es sich dort zu regen, wo die ersten Wohnsiedlungen auftauchen: in Baumschulenweg City, wo sich die ganz normale Sachlichkeit aus der noch existierenden unteren Mittelschicht angesiedelt hat. Braune Feinripp-Pullover und beigefarbene Lederblousons biegen an der Kreuzung Baumschulenstraße nach rechts um die Ecke, Klinkerbau wechselt sich mit Nachkriegsmoderne ab, nüchterne Hässlichkeiten mit Pseudoschick. Kurz hinter dem VHS-Kolleg Treptow taucht ganz unvermutet eine Kleingartenkolonie auf, „Zur Linde“. Hecken und umliegende Häuser schützen vor Einblicken, doch dahinter eröffnet sich einem die Sicht auf ganze Felder aus Gartenkolonien. Links und rechts der Kiefholzstraße geht das so richtig los, kaum hat man die S-Bahn an der Eichbuschallee passiert. Durch die Flachheit der Landschaft verstellt auch nichts den Blick ins Zentrum. Erstmals ist der Fernsehturm zu sehen, wie ein Pappkamerad in der Ferne.

Die schiere Größe dieser Gartenkolonien lässt sie unwirklich erscheinen. Sie flimmern in ihrer stillen Statik. Inmitten ihrer Sträßchen parken ein paar verlorene Opel, und wer sich hier unterhält, dämpft die Stimme. Das Klischee von der Laube als Hort dumpfer Prolligkeit trifft nicht zu, eher schon hat sich eine untere Mittelschicht angesiedelt: Angestellte in verwalteten Positionen, GrundschullehrerInnen, Handwerker vielleicht. Zumindest laden sie ihr Laub genau unter jenen Schildern der Stadtverwaltung ab, die das Abladen von Gartenabfällen unter empfindliche Geldstrafen stellen.

Mögen manche ihrer Horte auch so lyrische Namen wie „Kolonie Einsamkeit“ oder „Am Südpol“ tragen, so sind all diese Gartenansammlungen doch eingetragene Vereine. Wenn nicht mündlich, dann verständigt man sich per schwarzes Brett über Neuanschaffungen und Weihnachtsfeiern. Die Speisekarte des „Vereinsheims Köllnische Wiesen“ verspricht frische Steinpilze mit Nudeln für fünfneunzig. Auch im Winter geöffnet.

Die Kolonie liegt genau da, wo früher einmal die Mauer verlief, ein Mahnmahl erinnert an diejenigen, die an dieser Stelle bei Fluchtversuchen aus der DDR ums Leben kamen. Doch Gegenwart und immergrüne Büsche tragen dazu bei, dass gerade hier nur noch schwer zu sehen ist, was mal Westberlin war und was „drüben“. Erst wenn sie die Ringbahn durchläuft und auf die Treptower Straße trifft, gibt die Kiefholzstraße die Last der Geschichte wieder ab an weiter westlich verlaufende Straßenzüge. Hier zeigt sich kurz die proletarische Grenzregion zwischen Neukölln und Treptow: Im „08/15“ lautet heute das Angebot „Happy Hartz IV“ und lockt mit „Staropramen 0,5 l – 1,99 €“. Das Restaurant namens „Welt des Essens“ gegenüber bietet eine ganze Pizza plus Desserteis für einsfünfzig; und auch das 24-Stunden-Restaurant an der Ecke konkurriert ernsthaft mit diesen Preisen.

Erst an diesem Punkt, wo das Silbergebäude von Siemens bereits im Südosten schillert, fühlt sich die Kiefholzstraße an wie all die anderen Straßenzüge auch, die sich vom Landwehrkanal durch Treptow hinunterziehen und zunehmend Studierenden Wohnunterkunft bieten. Das „Gesamtkunstwerk Lohmühle“, eine Wagenburg direkt am Landwehrkanal, markiert den nördlichen Beginn der Kiefholzstraße. Hier beginnt Kreuzberg, zumindest im Geist. Und verblüfft stellt man fest: Jetzt kann man auch dem Fernsehturm schon die Hand reichen.