Bürger verlieren den Anschluss

Rund 1.000 Teilnehmer suchten auf dem Hauptstadtkongress nach Wegen, freiwilliges Engagement zu fördern. Konkrete Projekte wurden kaum angestoßen, manche Bürger sahen sich völlig ignoriert

VON IWONA KALLOK
UND PHILIPP DUDEK

In der Mitte des großen Kongresssaals steht eine alte Frau aus dem Publikum am Mikrofon: „Was nutzen die ganzen Hauptstadtkongresse, wenn sie nicht von unten kommen!“, fragt sie Richtung Podium. „Ich kann die Leute in meinem Freundeskreis nicht motivieren, sich zu engagieren. Ich bin enttäuscht darüber, dass dieses Problem hier überhaupt nicht angesprochen wurde.“ Die knapp 1.000 Anzugträger im Grand Ballroom des noblen Grand Hyatt am Potsdamer Platz sind jetzt ganz still. Ihre Augen richten sich auf das Podium. „Vielen Dank für Ihren Beitrag“, sagt dann Johannes Bohnen, Mitinitiator des Hauptstadtkongresses.

Bemerkungen alter Damen passen offenbar nicht in die Verabschiedung eines Impuls- und Aktionsplans. Stattdessen diskutieren die Vertreter der fünf Träger-Netzwerke des Hauptstadtkongresses jetzt mit den Krawattenträgern über bilinguale Erziehung, freie Schulwahl und über die stärkere Vernetzung von Freiwilligeninitiativen.

Eigentlich sollten auf der Veranstaltung am Samstag neue Wege gefunden werden. Wege, bürgerliches Engagement zu stärken, bürokratische Hindernisse zu umgehen und die intellektuellen und sozialen Ressourcen Berlins zu nutzen. „Berlin hilft sich selbst“ war das Motto des Kongresses. Doch erst mal wurde vor allem viel geredet. Kongress-Initiator Johannes Bohnen, Ex-CDU-Sprecher und heute Geschäftsführer von Scholz & Friends Agenda, forderte in seiner Begrüßung die Vernetzung von „bürgerlichen Kreisen“. Stargast Gesine Schwan, Rektorin der Viadrina-Universität in Frankfurt (Oder), dozierte über die theoretischen Grundlagen einer Bürgergesellschaft und stellte fest: „Im Vertrauen auf die Zivilgesellschaft liegt die Zukunft.“ Bürgerengagement sei für das Funktionieren einer Demokratie unverzichtbar. Zukunftsdenker Bernhard Mutius philosophierte darüber, „wie wir auf der schwankenden Komplexität der Realität überleben können“. Da hatten einige ältere Damen einer Senioren-Initiative bereits den Saal verlassen. „Zu langweilig, mit so viel Theorie locken Sie in den Kiezen keinen Hund vor die Tür.“

In den anschließenden Panels wurden dann einige praktische Ideen in die Runde geworfen. Zum Beispiel ein kostenloses BVG-Jahresticket für freiwillige Helfer. Oder eine Ehrenamtsrubrik in den großen Berliner Tageszeitungen. Aber für die Zuhörer aus Berliner Bürgerinitiativen war das zu wenig.

„Es gab zu viele staatstragende Reden. Man sollte Vernetzung nicht nur kommunizieren, sondern auch praktizieren“, so ein Mitglied des Arabischen Kulturvereins aus Neukölln. „Es ist gerade das Stehen mit der Tasse in der Hand, das Menschen zusammenbringt.“ Und das war am Samstag nur eingeschränkt möglich. Eine Tasse Tee für die Zuhörer gab es nur in der Mittagszeit. Vorher bestand Ausschankstopp, und Punkt zwei Uhr räumten Hostessen und Hosts Lachshäppchen, Tiramisu in Vanillesoße und die Getränke wieder ab.

„Das hier ist echt nicht bürgernah. Die Parteien wollen sich wahrscheinlich mit dem Engagement der Bürger schmücken“, meint Sven Gramstadt, Student für Gemeinwesen. Konkret wurde die Veranstaltung erst am Ende. Der Kongress beschloss, noch in diesem Jahr vorbildliches Engagement mit einem „Berliner Bürgerpreis“ auszuzeichnen. Außerdem wollen sich die fünf Trägernetzwerke stärker vernetzen. Doch das erklärte Ziel, mehr Berliner zu freiwilligem Engagement für die Zukunft ihrer Stadt zu bewegen, kam nicht mehr zur Sprache. Daran konnte auch das beharrliche Nachfragen älterer Damen nichts ändern.