Offener Blick in die Abgründe des Lebens

Der Therapeut Andreas Koch ist Psychologe. Die meisten Spielsüchtigen kommen erst nach vielen Jahren zu ihm – wenn es gar nicht mehr geht

Spieler torkeln nicht beim Gehen, sie riechen nicht nach Alkohol, sie sehen ganz normal aus

Manche kommen mit zwei Plastiktüten in der Hand, Taschen voller Rechnungen und ungeöffneten Briefen aus den letzten Jahren. Sie sind Polizisten, Immobilienmakler, Ärzte, Lehrer, Taxifahrer – alle Branchen sind vertreten. Die Sucht kann jeden erwischen. Aber wenn die Männer und Frauen schließlich im Büro von Andreas Koch landen, einzeln den schmalen Erdgeschossraum betreten, dessen karges Mobiliar nur aus einem schwarzen Schreibtisch, zwei Stühlen und einem Lamellenvorhang am Fenster besteht –, dann sieht der Psychologe vor sich einfach nur einen Menschen in ziemlich schlechtem Zustand.

Einen Menschen mit einem Haufen Schulden, einer kaputten Familie und einer Menge sonstiger Probleme. Es sind Männer, die von ihren Frauen gedrängt wurden; andere hat die Verwandtschaft geschickt, der Chef oder ein Richter. Weil es einfach nicht mehr geht. Weil immer mehr Geld fehlt und der Drang nicht kleiner wird. Weil sie die Lügen nicht mehr aushalten, das Doppelleben, den Rausch und das schlechte Gewissen hinterher. Weil sie die Spielsucht loswerden wollen.

Andreas Koch arbeitet im „Café Beispiellos“, einer Beratungsstelle der Caritas für Glücksspielabhängige. 1987 wurde sie in Kreuzberg eröffnet; damals war sie eine der ersten Hilfeeinrichtungen für Spielsüchtige in Deutschland überhaupt. Koch trägt schwarze Jeans und schwarze T-Shirts zu den kurzen schwarzen Haaren, dazu eine eckige dunkle Brille im Gesicht, und dieses ganze Schwarz verleiht dem Psychologen einen markanten Ausdruck, eine Kompromisslosigkeit, die ein Interesse an den dunklen Seiten des Lebens nahe legt. Wenn er seine Klientel beschreibt, tut er das mit einer für seinen Berufsstand typischen Ausgewogenheit aus Distanz und Anteilnahme, mitleidlos, aber voller Offenheit für die Abgründe des Daseins.

„Spielsüchtige sind sensible Leute“, erklärt Koch. Viele könnten bereits aus einem bestimmten Geruchsgemisch „aus kaltem Rauch, Schweiß und Geld“ die Nähe einer Spielhalle wittern, erzählt er. Sie seien fähig, das Rollen einer Billardkugel auf große Entfernung wahrzunehmen, oder würden nervös, wenn sie die Melodie „ihres“ Spielautomaten aus einer geöffneten Imbissbudentür hörten.

80 Prozent der Spielsüchtigen sind Männer. Und die meisten von ihnen schleppen ihre Sucht lange mit sich herum, bevor sie zu Koch kommen. Das Spielen lässt sich über lange Zeiträume geheim halten. Spieler torkeln nicht beim Gehen, sie riechen nicht nach Alkohol, sie sehen ganz normal aus. „Oft fällt irgendwann der Ehefrau auf, dass Geld vom Konto fehlt“, sagt Koch. Auf seiner Telefonliste hat er auch die Nummern von diversen Schuldnerberatern stehen. Denn „die Spielsucht ist die teuerste Sucht, die es gibt“, warnt Koch. Die Spielsüchtigen, die zu ihm kommen, sind im Schnitt mit 29.000 Euro verschuldet.

Keine Wunderwaffe parat

Und wie berät der Psychologe die Abhängigen? Koch macht es so: Er schlägt den Spielsüchtigen vor, das eigene Geld in fremde Hände abzugeben. Damit keine neue Versuchung entsteht. Dazu sollten die Betroffenen sich „nicht zu große Ziele stecken“, nur probieren, „diesen einen Tag spielfrei zu bleiben. Dann den nächsten, den übernächsten.“ Außerdem empfiehlt er, sich neue Hobbys zu suchen. Für die viele Zeit ohne Spielautomaten. Regelmäßige Gruppensitzungen mit anderen Betroffenen im „Beispiellos“ könnten das Durchhalten erleichtern, meint Koch, sein Blick ist abgeklärt. Man merkt: In Kochs Sätzen liegt nichts von Erlösung. Er hat keine Wunderwaffen im Ärmel, nur seine Erfahrungswerte im Kopf, und die sagen ihm, was funktioniert und was nicht.

Man soll sich übrigens nicht täuschen: Die Räumlichkeiten des Café Beispiellos haben nichts von einem echten Café. Es gibt einen Besprechungsraum mit einem langen Tisch und ein weiteres Zimmer mit Stühlen, wo die Gruppensitzungen stattfinden, ansonsten ein paar schmucklose Büros für Koch und seine Kollegen. Angesichts der rund 550 neuen Betroffenen, die hierher allein im Jahr 2008 kamen, platzt alles aus den Nähten, sagt Koch und zieht das Gesicht breit zu einem gequälten Grinsen. Denn das ist man ja mittlerweile gewohnt, dass alles im sozialen Bereich eher ums finanzielle Überleben kämpfen muss, als dass etwas einmal wirklich dick ausgestattet wäre.

Dabei werden es jedes Jahr immer mehr Spielsüchtige, die beim Café Beispiellos Hilfe suchen, die Zahl hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Koch weiß nicht, ob er stolz oder traurig sein soll über dieses Wachstum. Denn natürlich haben er und seine Kollegen auch selbst dazu beigetragen. Sie haben in den letzten Jahren immer wieder Pressekonferenzen veranstaltet, sie haben mit Plakaten und Broschüren ihre Einrichtung bekannter gemacht in der Stadt. Dazu kommt, dass die Glücksspielsucht seit dem Jahr 2001 offiziell in Deutschland als Krankheit anerkannt ist, was auch bei den Betroffenen die Einsicht befördert, dass es sich tatsächlich um ein ernst zu nehmendes Problem handelt. Dass das Spielen mehr ist als nur eine Leidenschaft oder ein Hobby.

Spielsucht passt in die Zeit

Schließlich ist es auch so, dass der Typus des Spielsüchtigen gut in unsere Zeit passt. Es sind gefragte Kompetenzen, über die Spielsüchtige verfügen. Üblicherweise sind sie in der Lage, in kurzer Zeit viel Geld zu organisieren. Sie können ihrer Umwelt ein intaktes Leben vortäuschen – oft jahrelang. Sie sind extrem belastbar und stressresistent. Wie sonst soll man es schaffen, zehn Spielautomaten gleichzeitig zu bedienen. Kirsten Küppers