Express zur Hölle

Die libanesische, ideologiefrei kritische Autorin Etel Adnan gastiert in der Neuen Gesellschaft

In Beirut grauer Alltag, in Damakus Zauber und FeiernAuffassungen von Wahrheit ändern sich wie die Jahreszeiten

von Petra Schellen

Die Katastrophe beginnt, wenn sie den Wind nicht mehr versteht. Wenn sie nicht mehr mit den Wolken reden kann – kurz: wenn die Welt aus ihren Fugen splittert, ohne dass Etel Adnan etwas dagegen tun könnte. Zu scharf durchschaut die im Libanon geborene Autorin die Logik US-amerikanischer Kriegsrhetorik; es bleibt das Empfinden eigener Ohnmacht: Zermalmende Wut spürt die zwischen Beirut, Paris und Kalifornien pendelnde, jetzt in Hamburg gastierende Autorin, als der Irak-Krieg beginnt; durch Auf-den-Vorhang-Starren, Teetrinken und Imaginieren der Meeresfarbe sucht sie sich in Kalifornien vom Jubel ihrer Umgebung abzulenken.

Aber die Selbstbetäubung gelingt ihr nicht; auch durch das stumme Telefon hört sie Sterbende schreien. Denn aus Kriegen ist das Leben der zwischen den Stühlen sitzenden Adnan gewoben: 1976 musste sie – nach Studium in Paris und den USA als Feuilletonistin in Beirut arbeitend – die Stadt wegen ihres Poems „Express Beirut – Hölle verlassen; auch ihr bürgerkriegs-kritischer Roman Sitt Marie Rose wurde im Libanon sofort nach Erscheinen verboten.

Doch „den richtigen Ort“ hat die Autorin, die jetzt ihr Buch Die Sonne zergeht auf der Zunge vorstellt, nie gefunden. „Irgendwann habe ich begriffen, dass es unmöglich ist, jemals vollkommen dort zu sein, wo man ist“, sagt sie; ein waches Anerkennen der Tatsache, dass der Einzelne immer nur Atom ist, zufällig durch die Welt gespült.

In Smyrna ist die Tochter eines syrischen Muslims und einer christlichen Griechin geboren, die auf der französischen Privatschule kein Arabisch sprechen durfte; die Schriftsprache brachte ihr der Vater bei. „In Beirut gab es Verwirrung und Alltag; in Damaskus Zauber und Feiern. In Beirut war ich die Christin, in Damaskus befand ich mich an der Schwelle zur islamischen Welt. So gewöhnte ich mich daran, Auffassungen von Wahrheit kennen zu lernen, die sich änderten wie die Stunden des Tages und die Jahreszeiten.“ Und später: „Natürlich bin ich manchmal traurig, dass ich nicht Arabisch schreiben kann. Aber was soll ich tun? Es ist mein Schicksal!“

Durch Sprachen, Religionen, Bildwelten wandelt Adnan seiher; poetologische Fragen durchziehen ihre gesamtes Dichten, Philosophieren und Malen: Auf Französisch schrieb sie in Paris; bei Ausbruch des Algerien-Kriegs setzte sie entsetzt Englisch an dessen Stelle; auf der Suche nach dem Arabischen fand sie zur abstrakten Malerei.

Doch Sprachen stehen für perspektivische Verschiebungen: Fast plakative Formulierungen mischen sich in ihre englischen Zeilen: Knochen werden zu „Palästina-Kalzium“, schreibt sie 2002 in „Dschenin“. Fleisch geworden ist hier jene Brutalität, die Adnan in ihrem französischsprachigen „Express Beirut – Hölle“ 1970 noch Prophetie gewesen war. Wie ein fein justierter Kompass hatte sie bei ihrem Beirut-Aufenthalt Anfang der Siebziger den Zustand der Stadt gespürt:„Mir wurde klar, dass zwischen den Menschen unterschiedlicher Zugehörigkeit ein tiefer Hass schwelte, der den Libanon irgendwann in Flammen setzen würde.“

Eine Ära, in der wir „selbst die Pflanzen prostituiert“ haben, diagnostiziert sie und leidet am Zustand jener Metropole, die jahrhundertelang Zentrum arabischer Intellektueller und Oppositioneller war. Ein Verlust, den etliche arabische Autoren beklagen – auch in der 2004 von Suleman Taufiq edierten Anthologie Neue arabische Lyrik, in der Etel Adnan merkwürdigerweise nicht vertreten ist. War die Tatsache, dass sie nicht arabisch schreibt, der Grund, ihre Gedichte nicht in das vielstimmige Kompendium zu integrieren?

Man weiß es nicht, und Adnan selbst findet ihren Ort weder geographisch noch sprachlich: In abstrakten Kalligraphien nähert sie sich ihren arabischen Wurzeln und beschwört immer wieder über die Einheit von Welt und Individuum. Entrückt wirkt solch scheue Religiosität aber nie: Immer weiß Adnan sich „befreundet“ mit der Materie; nicht zufällig wollte sie erst Architektin, dann Ingenieurin werden, bevor sie das Schreiben begann.

„Das Wetter ist reiner Wille der Materie“, schreibt sie und: „Wenn man den Äpfeln zu nahe kommt, erröten sie.“ Sätze, die alles einschließen, ohne es einzusperren. Begreifensversuche von Welt offenbaren sich hier, vermengt mit prophetischer Empfindsamkeit und dem Nachsinnen über die Engel des Renaissance-Malers Fra Angelico: Wo sind sie geblieben angesichts des Sieges der Technik, den der Irak-Krieg bedeutet? „In den USA wurde ich zur Araberin“, sagt sie später, sich an ihre Treffen mit arabischen Studenten erinnernd; erst durch sie verfeinerte sich ihr politisches Bewusstsein.

Doch bei aller Identifikation war Einseitigkeit nie ihr Ziel: Scharf seziert sie Erstarrungen sowohl der arabischen als auch der westlichen Welt. Klar umreißt sie die atmosphärischen Veränderungen Beiruts, das 1925, im Jahr ihrer Geburt, „eine blühende Gartenstadt war... Muslime und Christen lebten in völliger Harmonie zusammen. Zu jenen Zeiten herrschte im Orient eine beispielhafte Toleranz.“

Ein Zustand, den sie nicht verklärt und dessen Voraussetzungen – sie weiß es – schwer wieder herzustellen sind. Doch aufgegeben hat sie die Suche nach dem Paradies ihrer Kindheit nie, pendelnd zwischen den USA, Paris und Beirut und überall bloß Erinnerungen findend. Und doch: „Was sind zu Staub zerfallene Siglen der Erinnerung, wie es die Zerstörung der Bibliothek von Bagdad war?“ Retten uns traumgetränkte Gedächtnisfetzen vor irgendwas? Oder sind es Schilde, die wir uns vor die Seele halten, um den Verlust zu ertragen?

Fragen, die auch der Band Die Sonne zergeht auf der Zunge aufwirft, ein Dialog mit Heiner Müller, der „Express Beirut – Hölle“ und „Dschenin“ zweisprachig enthält. Ein Buch, das – abgesehen von einigen Schnitzern bei der Übersetzung aus dem Französischen – eine wichtige Facette arabischer Literatur spiegelt, deren Rezeption hierzulande soeben zart begonnen hat.

Etel Adnan: „Die Sonne zergeht auf der Zunge.“ Hamburg 2004; 128 S., 14,90 Euro Lesung: Do, 20.1., 19 Uhr, Neue Gesellschaft, Rothenbaumchaussee 19 I