Bedrohte Exklusivität der Späte

In Berlin gibt es viele kleine Läden, die dank kreativer Nutzung von Sonderklauseln auch nach 20 Uhr verkaufen. Der allgemeinen Öffnung der Schlusszeiten sehen sie mit gemischten Gefühlen entgegen

VON IWONA KALLOK

Das Geschäft ist so bunt wie sein Kiez – ein deutsch-türkischer Gemischtwarenladen. Im Laden weht die rote Fahne mit dem Halbmond friedlich vereint mit der schwarz-rot-goldenen, darunter werben schöne Frauen für den leichten Zigarettengenuss. Das „MultiKulti“ in der Wiener Straße in Kreuzberg, gegenüber vom Görlitzer Park. An der Fronttür hängt ein selbst bemaltes Blatt Papier. „Bier nur ein Euro.“ Den drei Herren vor dem Laden scheint es zu schmecken, mit einer Kippe in der Hand genießen sie ihr Vormittags-Clausthaler.

An der Eingangstür steht Verkäuferin Michelle Kolwe und klönt mit ihren Kunden. Die Runde trifft sich fast täglich, meistens im „MultiKulti“. Eigentlich ist der Laden angemeldet als Videothek, deshalb darf er bis 23 Uhr öffnen. Aber das meiste Geld verdient Inhaber Ünal Kartal mit anderen Sachen, die täglich über den Ladentisch gehen. Lutscher und Gummibärchen für zehn Cent, Toilettenpapier und Kaffee, ein Abschleppseil. Zeitungen und Zeitschriften von der AutoBild bis zur Praline. Und vor allem Zigaretten und dutzende Flaschen Beck’s, Clausthaler, Berliner Kindl, Sternburger Pils, Warsteiner, Mumm Sekt und Dombrovka Wodka.

„Wir haben überwiegend Stammkundschaft“, sagt Michelle, „Leute aus der Gegend“. Die verbringen einen Teil ihres Tages hier im „MultiKulti“. Die Verkäuferin wacht hinter der Kasse, über ihr ein selbst gemaltes Plakat „Rauchen- und Alkoholkonsum verboten“.

„Die Leute kommen her, weil sie sich hier unterhalten können und nicht sofort rausgeworfen werden“, sagt Michelle. Außerdem seien einige der Lebensmittel im „MultiKulti“ billiger als in den anderen Läden. „Die Menschen sind es gewöhnt, nicht zu Lidl oder zu Aldi über die Brücke zu gehen.“ Auch wenn die künftig länger aufhaben sollten, hat Inhaber Ünal Kartal keine Angst vor neuer Konkurrenz. „Wir haben unsere Stammkunden, die kommen auch weiter zu uns.“

Anders sieht das der Inhaber des Lotto-Toto-Ladens mit Kaffeebar in der Invalidenstraße in Mitte. Hier gibt es jede Nacht bis 1 Uhr Zeitungen, Zigaretten – und Kaffee. „Wir mussten viele Auflagen erfüllen, haben viel Zeit und Geld investiert“, sagt der Inhaber. Deshalb ist er gegen eine generelle Aufhebung der Ladenöffnungszeiten. „Es wäre ungerecht, wenn es den anderen leichter gemacht würde.“ Denn der Laden ist angemeldet als Ausschankbetrieb. Der darf länger geöffnet haben, benötigt aber Toiletten. Die musste der Inhaber erst einbauen. Heute führt er das Geschäft sowohl als Kaffeebar als auch als Totoladen.

Durch die Fensterscheiben sieht man zuerst den Zeitungsständer mit seinem internationalen Angebot: vom Corriere della serra bis zur New York Times. Im Zeitschriftenregal im Laden liegt der Spiegel neben der Zeit-Sonderausgabe. Genau das, was die Stammkundschaft gerne liest. Ein paar Schauspieler, Grafiker aus den Büros im Kiez, Studenten, Rentner und die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen, Angelika Beer. Sie lesen hier Zeitung, machen Kaffeeplausch oder trinken einen Bordeaux.

Die Penner, die manchmal vor der Markthalle Geld sammeln, bekommen zwar auch ihren Kaffee, werden dann aber wieder hinausgebeten. Sie passen nicht zu dem schicken Mobiliar, der gläserne Theke mit den Tequila- und Weinflaschen.

Wenn weitere Geschäfte in der Gegend abends verkaufen dürften, hätte das auch wirtschaftliche Folgen für den Lotto-Toto-Mann. „Wir müssten uns umorientieren. Aber untergehen werden wir nicht, dank unserer Stammkunden.“