zur ruhe kommen mit freund birnbaum von JAN ULLRICH
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Mein Freund Birnbaum und ich arbeiten im „Ministerium für Aufgaben und Angelegenheiten“, und heute kehren wir ein in uns. „Hmm!“, macht Birnbaum, weil er gerade nachdenkt. „Puuuh!“, seufze ich tief und versuche es ihm gleichzutun.

„Was ist denn hier für eine Stimmung?“, poltert Oberamtsrat Bruch plötzlich herein: „Brauchen Sie lustige Hütchen, ulkige Pappnasen oder formschöne Girlanden ?“ – „Auf gar keinen Fall!“, stellt Birnbaum fest. „Wir suchen hier kein billiges Vergnügen!“ Empört knallt Oberamtsrat Bruch die Tür zu. „Unerhört!“, ruft er. „Nicht zu fassen!“, tönt es noch weit von den Fluren. „Schade um die schöne Stimmung“, bedauert Birnbaum. Anschließend meditieren wir zu dem Satz: „Ich beiße mir auf die Zunge, und plötzlich sind meine Ohren taub.“ Aber das hilft alles nichts. „Pariser Nachtleben, römischer Karneval, Sirenengesang“, brüllt Oberamtsrat Bruch draußen vor dem Fenster: „Frauen mit Schildkröten im Haar!“

Fast übersehen haben wir dabei den Kollegen, der jetzt in der Tür steht. „Ich bin nicht gern unter Menschen“, sagt Kassenprüfer Lehmann, der schon seit zwei Monaten sein Büro geschlossen hält. Dann schweigt er einen Moment, bis er hinzufügt: „In meiner Freizeit beschäftige ich mich viel mit den Themen Zufall und Schicksal, und ich kann mit absoluter Gewissheit sagen, dass jedes Zusammentreffen zwischen Sachbearbeitern und ihren Kunden mit zwingender Notwendigkeit vollkommen bedeutungslos ist.“ Birnbaum und ich nicken zustimmend. „Vielleicht“, ergänzt er nach einigem Überlegen, „ist der Mensch einfach nicht für den Menschen gemacht.“

Inzwischen sehen wir Oberamtsrat Bruch, wie er nackt mit einem Pferd tanzt. Dabei ruft er verzückt: „Ich bin ein wilder Stier aus Zartbitterschokolade, der im Mund einer heißblütigen Husarin schmilzt.“ Danach verliert er sich in der hereinbrechenden Nacht.

„Auch Tiere kann ich eigentlich nicht leiden“, fährt Kassenprüfer Lehmann nun fort, nachdem er sich in eine halbdunkle Ecke gesetzt hat. „Und selbst Gegenstände finde ich oft sehr hinderlich und überflüssig“, ergänzt er und stößt sich das Knie an einem kleinen Tisch vor ihm. Darauf löscht er in seiner Ecke das Licht. „Im Grunde müsste die Welt für mich völlig neu erfunden werden“, bemerkt er noch und schließt mit den Worten: „Ich werde mich hier nie zurechtfinden.“ Dann ergreift er eine schwarze Decke, wirft sie über sich und ist endgültig verschwunden.

Für einen Augenblick ist es ganz still. Doch plötzlich erklingt die Stimme von Kassenprüfer Lehmann noch mal, der leise singt: „O weh, wohin sind alle meine Jahre entschwunden? Habe ich mein Leben geträumt, oder ist es wirklich gewesen? Wovon ich immer glaubte, dass es etwas wäre, war es wirklich etwas? Offenbar habe ich geschlafen und weiß es nicht.“

Und während Birnbaum und ich die Strophe des Liedes leise und nur für uns wiederholen, verkündet Lehmann: „Und waren unsere bildhaften Vorstellungen nicht richtig? Hängen wir nicht tatsächlich in der Luft, leiden wir nicht an einer ewigen Krankheit: der Sucht nach Stabilität?“ Einen Moment singen wir noch. Dann verlieren wir uns in unserer eigenen Unmöglichkeit.