Die Individualistendämmerung

Weniger als zwei Sekunden dauert dieser Tage ein Akt konventioneller Kommunikation

Seit dem letzten Weihnachtsfest und den damit verbundenen Geschenken treten junge Exemplare der Gattung Mensch verstärkt in gleichgeschlechtlichen Paaren auf. Sie gehen nebeneinander durch Fußgängerzonen, sitzen zusammen in Bussen und Bahnen oder auf Schulbänken, verbunden durch eine Art ypsilonförmige Trense aus Draht, die in Höhe des Solarplexus an einem Metallknopf beginnt, sich in Brusthöhe verzweigt, zum linken Ohr des linken und zum rechten Ohr des rechten Backfischs führt und deren Enden durch die Gehörgänge in die Köpfe münden.

Die Drähte verbinden nicht nur die Körper, sondern auch die Gemüter, Y-Verdrahtete zeigen identische Gesichtsausdrücke, sie starren nämlich entrückt ins Leere, was auf identische Gemütszustände schließen lässt.

Seichte Energie rauscht durch die Drähte und von dort durch die Zerebralsysteme. In Abständen von etwa zwei Minuten heben sich für einen Moment synchron die Köpfe, drehen sich einander zu und nicken kurz. Dabei huscht ein kaum merkliches Lächeln über die Gesichter. Weniger als zwei Sekunden dauert dieser Akt konventioneller Kommunikation. Die nächsten zwei Minuten verbringt das Paar dann wieder als verdrahtete Einheit, kommuniziert wieder direkt über Kabel. Gestik, Mimik, Worte gar sind obsolet. Vieles spricht dafür, dass neben auditiven auch mentale, emotionale und spirituelle Daten übertragen werden, nicht zuletzt der Blick: synchron somnambul.

Die materielle Welt der U-Bahnen, Bahnsteige, Straßen, Klassenzimmer existiert für unsere Paare nur virtuell, als dreidimensionale Animation, die reale Welt fließt von Ohr zu Ohr. Das ist gut so. Ein Zeichen der Hoffnung. Das Zeitalter des kühlen Individualismus neigt sich dem Ende zu, der neue Mensch sucht die Zweisamkeit. Die Zukunft gehört der USB-Dyade, der Solipsismus weicht der Harmonie.

Nicht egoistische Triebe, vulgo der Wunsch zu rammeln, treibt die jungen Menschen um, sondern gemeinsames Erleben, für das Verzicht geübt wird.

Die akustischen Outputs an den Trensenenden, digital entschlüsselt, sind nicht identisch, sondern komplementär. Es handelt sich um ein Zweikanaltonsystem. Das heißt, der volle auditive Genuss ist nur dann zu erreichen, wenn beide Y-Enden in unterschiedliche Gehörgänge eines Subjekts münden.

Das Aufsplitten der komplementären Signale auf zwei Subjekte bedeutet also Verzicht. Dieser Verzicht wird aufgewogen durch den Gewinn des gemeinschaftlichen Erlebnisses. Die USB-Dyade bildet somit eine ideelle ästhetische Einheit und schafft eine neue Form der Wahrnehmung, die sich dem je autonomen Subjekt allein nicht erschließt, ein dialektisch-ästhetischer Akt des Gewinns durch Verzicht. Damit verheißt sie eine bessere Welt, voller Zuversicht und Harmonie, Paare bar des Paarungswunsches. Sogar der Vatikan darf sich freuen.

Schön wär’s. Oder auch nicht. Wenigstens von Zeit zu Zeit sollten sich die jungen Träumer von ihrem Drahtzwilling lösen und sich irdischem Verlangen hingeben, schließlich muss irgendwer ja einmal ihre Rente verdienen. Und meine selbstverständlich auch. Und wegen des Vatikans, damit der sich nicht zu viel freut.

JOACHIM FRISCH