Viel blinder Glaube und ein Toter

„Er sagte, das ist so verrückt, das kann keiner erfunden haben. Das hat seine letzten Zweifel beseitigt“

AUS AUGSBURGJÖRG SCHALLENBERG

Jetzt kann es selbst der Vorsitzende Richter Wolfgang Rothermel nicht mehr fassen. Der erfahrene Jurist unterbricht seine Befragung, schüttelt mit entgeistertem Gesicht den Kopf, blickt vom Zeugen zum Angeklagten und zurück. Als er weiterspricht, klingt es, als habe er nun endlich kapituliert vor all dem Irrwitz, den er bis hierher anhören musste. „Wenn es nicht um einen Todesfall ginge“, stellt Rothermel fest, „wäre das hier eine Angelegenheit für das Königlich Bayerische Amtsgericht.“

Man könnte die Bemerkung für unpassend halten – schließlich tagt das Augsburger Landgericht im Wiederaufnahmeverfahren wegen räuberischer Erpressung mit Todesfolge gegen den 57-jährigen Schauspieler Günther Kaufmann. Zu klären ist, ob und wie Kaufmann in den gewaltsamen Tod des Münchner Steuerberaters Hartmut Hagen verwickelt war. Es ist schon bis zu diesem Tag, einem der letzten der Beweisaufnahme, ein Fall, der jeden Krimi verblassen lässt und ebenso das Zeug zu einem Melodram wie zu einem Justizskandal besitzt. Doch es handelt sich zugleich um eine Posse und eine Gaunerkomödie, wie sie die Drehbuchautoren des Fernseh-Amtsgerichts nie gewagt hätten, zu erfinden. Es wäre einfach zu unglaubwürdig gewesen.

Gerade eben hat also der Zeuge Christoph B. diese Geschichte erzählt: Sein bester Freund, Hartmut Hagen, hatte Günther Kaufmann und dessen Ehefrau Alexandra bis ins Jahr 2001 hinein über 800.000 Mark geliehen. Mit dem Geld wollte Alexandra Kaufmann einen Schadenersatzprozess in den USA gewinnen. Sie behauptete, den Rockstar Billy Idol auf bis zu 70 Millionen Dollar verklagt zu haben, weil der den geplanten Bau eines Hotels auf einem Grundstück der Kaufmanns in Portugal angeblich hatte platzen lassen. Steuerberater Hagen sollte als Belohnung einen Großteil der zu erwartenden Millionen einstreichen. Er witterte, sagt B., das Geschäft seines Lebens. Nur: Es gab nie einen Schadenersatzprozess.

Nach Jahren des Hinhaltens kamen Hagen – wahrlich kein Laie in juristischen und finanziellen Fragen – nach diversen Warnungen von Freunden, Anwälten und Mitarbeitern endlich Zweifel an der Geschichte. Er forderte sein Geld zurück – woraufhin Alexandra Kaufmann prompt ein neues Märchen erfand: Demnach wollte Egon Krenz, einstmals FDJ-Chef und Nachfolger von Erich Honecker als DDR-Staatschef, nun das Grundstück in Portugal für 2,7 Millionen Mark kaufen, was alle finanziellen Probleme lösen würde. Das Geld hätte Krenz in einem geheim gehaltenen Verfahren von der Bundesregierung erhalten – als Wiedergutmachung dafür, dass er im Gefängnis vergewaltigt worden war. Als der Zeuge B. an diesem Punkt angelangt ist, liegt eine Art fassungslose Stille über den Bänken des Schwurgerichtssaales E 101 im Augsburger Landgericht. Doch es geht noch weiter.

Krenz habe, dichtete Alexandra Kaufmann, den Kaufvertrag schon unterschrieben. Doch wenige Stunden später meldete sie sich wieder: Zur Feier des Geschäftes sei sie mit Krenz essen gegangen. Dabei habe der ehemalige SED-Generalsekretär eine schwere Fischvergiftung erlitten und spontan beschlossen, nie wieder einen Fuß auf portugiesischen Boden zu setzen. Der Kauf des Grundstücks sei hinfällig. Für den Fall, dass die Kaufmanns den Vertrag nicht zerreißen würden, habe Krenz mit seinen Kontakten zur russischen Mafia gedroht.

Hier endet die Aussage des Zeugen B. Es folgt eine Pause, die Minuten zu dauern scheint, bevor der schwer um Fassung ringende Richter Rothermel nachfragt: „Und das hat Herr Hagen geglaubt?“ Der Zeuge nickt: „Er hat zu mir gesagt: Die Geschichte ist so verrückt, die kann niemand erfunden haben. Das hat seine letzten Zweifel beseitigt.“ An dieser Stelle fällt Richter Rothermel das Königlich Bayerische Amtsgericht ein.

Wenn man einen Moment länger über die fantastischen Lügenmärchen der Alexandra Kaufmann nachdenkt, die sowohl den Steuerberater Hagen als offensichtlich auch ihren Mann – der von nichts gewusst haben will – jahrelang täuschen konnte, dann kommt man zu dem Schluss, dass sich im Fall Günther Kaufmann immer alles nur um diesen Punkt gedreht hat: Was Menschen glauben, wenn sie es nur glauben wollen – obwohl sie es längst besser wissen müssten. Aus Geldgier der eine, aus Liebe der andere.

Oder weil man sich auf einen Täter geeinigt hat, auch wenn vieles dagegen spricht. Wie jene Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Verteidiger, die Kaufmann im Jahre 2002 für lange Zeit hinter Gitter schickten. Kaufmann ist zwar seit November 2003 wieder ein freier Mann, doch Polizei und Staatsanwaltschaft verdächtigen ihn weiterhin, an der Tat beteiligt gewesen zu sein, sodass Anfang Januar das Wiederaufnahmeverfahren vor dem Augsburger Landgericht eröffnet wurde.

In Augsburg bekommt Günther Kaufmann – der im dortigen Knast die Theatergruppe zu ungeahnten Höhenflügen getrieben hatte – bereits am ersten Prozesstag seinen großen Auftritt. Drei Stunden lang dauert sein Monolog, der nur ab und an vom Richter unterbrochen wird. Kaufmann inszeniert die Aussage, indem er in die Rollen der Polizisten schlüpft, die ihn verhört haben. Er spielt nach, mit welchen Tricks ihn die Polizisten bearbeitet haben sollen – solange, bis er am Ende nur noch das gesagt haben will, was ihm die Beamten diktierten.

Minuten später sackt Kaufmann, der kräftige, große Mann mit dem raumfüllenden Bass, in sich zusammen, schluchzt, weint und entschuldigt sich bei zwei Bekannten, die er zu Unrecht mit in den Fall hineingezogen hat. Dann gibt er als nächste Facette den Verzweifelten, den Getäuschten, der von seiner über alles geliebten Frau so nach Strich und Faden belogen und betrogen wurde, dass er sich noch jetzt entgeistert an die Stirn schlägt. Trotzdem will Kaufmann dann, um die längst Schwerkranke zu schützen, mit dem falschen Geständnis alle Schuld auf sich genommen haben.

Warum er denn das Geständnis nicht nach dem Tod seiner Frau widerrufen habe, fragt Richter Rothermel. Sofort setzt Kaufmann den nächsten Akt in Szene, die in der Untersuchungshaft spielt. Dort sollen Kaufmanns Anwälte im ersten Verfahren, darunter der Münchner Star-Verteidiger Steffen Ufer, ihm die Akten auf den Tisch geknallt und ihn angebrüllt haben, dass er bei seiner Aussage bleibe – sonst gebe es „lebenslänglich“. Glauben würde ihm ohnehin keiner mehr.

Was man Günther Kaufmann bei seinem absolut bühnenreifen Auftritt im Augsburger Gerichtssaal glauben kann, bleibt ein Rätsel. Seine einstigen Anwälte bestreiten den angeblichen Vorfall im Gefängnis vehement. Andererseits spielt der Mime die Rolle des unschuldig Verfolgten sehr überzeugend – doch das war er vor über zwei Jahren auch als geständiger Täter. Ein psychologisches Gutachten des Sachverständigen Norbert Nedopil bescheinigt Kaufmann wenig überraschend „schauspielerhafte Züge“ mit einen Hang, besonders in schwierigen Situationen Fantasie und Realität zu vermischen. Fraglich, ob diese Diagnose nur auf Günther Kaufmann zutrifft.

Wenige Tage nach dessen Auftritt sagt der Chef der Münchner Mordkommission, Josef Wilfling, als Zeuge aus. Seine Beamten stehen nach dem bisherigen Verlauf des Falles durchaus blamiert da, doch Wilfling hat weiterhin „keinen Zweifel“, dass Kaufmann mit der Tat zu tun hat. Dann versteigt sich der Ermittler zu der Behauptung: „Herr Kaufmann hat etwas an der Leiche getan, was schlimmer ist als das, für das er verurteilt wurde.“ Im Saal herrscht Verblüffung, doch auf die Nachfragen des Gerichts antwortet Wilfling genauso wenig wie auf spätere Anfragen von Journalisten. Klar ist: Der Leichnam von Hartmut Hagen wurde mit entblößtem Unterkörper entdeckt – aber einer der Täter hatte angegeben, dass dem Toten die Hose heruntergezogen wurde, um ein Verbrechen mit dem Hintergrund einer homosexuellen Beziehung vorzutäuschen. Wilfling will sich angeblich nach dem Prozess detaillierter über seine Andeutung auslassen.

Zunächst haben andere das Wort. Nach den Plädoyers am Dienstag soll übermorgen das zweite Urteil über Günther Kaufmann gesprochen werden.